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Wenn Lehrer den Notausgang wählen

Grafik: Ein Mensch mit Schultasche steht vor einer Tür, über welcher "Ausgang" auf rotem Grund steht.

Lehrkräfte in Hessen lassen sich immer öfter aus dem Schuldienst entlassen. Sie berichten von Überlastung und geben sogar ihre Verbeamtung auf. Mittlerweile gibt es Exit-Berater, die beim Absprung ins neue Berufsleben helfen.

Die Grundschule war ihr "Baby", sagt Corinna Heller wehmütig. 16 Jahre leitete sie die Geschicke der August-Gaul-Schule in Hanau. Doch mit zunehmender Zeit und immer neuen Belastungen entwickelte sich ihr Baby nicht mehr wie gewünscht. "Die Gestaltungsspielräume wurden immer kleiner und die Aufgaben-Flut immer größer", erklärt Heller im Rückblick.

Bürokratie, immer neue Bestimmungen, Dokumentationspflichten, das Mega-Thema Digitalisierung, die Integration von Flüchtlingen und die Corona-Pandemie. "Es ging nur noch darum, zu funktionieren", sagt Heller. Irgendwann war es für sie nicht mehr leistbar. Der Entschluss reifte, den Schuldienst zu verlassen.

"Es tat weh. Der Schritt fiel mir nicht leicht." Sie gab damit auch ihren sicheren Beamten-Status auf. Mittlerweile arbeitet die 49-Jährige unter anderem als Pädagogik-Dozentin am Campus Frankfurt für die Internationale Hochschule. Und sie ist wieder glücklich.

"Besorgniserregende Tendenz" laut Gewerkschaft

So wie Corinna Heller suchen immer mehr Lehrkräfte einen (Aus-)Weg aus dem Schulsystem. Denn die Zahl der verbeamteten und angestellten Lehrer, die vorzeitig ihren Dienst quittieren ist den Jahren 2018 bis 2022 merklich angestiegen. Während vor sechs Jahren noch 39 Lehrerinnen und Lehrer die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis verlangten, waren es 2022 insgesamt 122 Lehrkräfte. Bei den angestellten Lehrenden kündigten 2022 106 Menschen, 2018 waren es erst 81 gewesen.

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Diese Zahlen gehen aus einer parlamentarischen Anfrage der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag hervor. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigte sich alarmiert, dass sich die Zahlen beinahe verdoppelt haben. "Angesichts von mehr als 60.000 Lehrkräften an hessischen Schulen mag diese Zahl gering erscheinen. Besorgniserregend ist aber die steigende Tendenz", erklärte der hessische GEW-Landesvorsitzende Thilo Hartmann auf Anfrage.

Lehrer wollen Job-Wechsel wegen Arbeitsbelastung

Und: Die offiziellen Zahlen seien nur die Spitze des Eisbergs, betonte Hartmann. An die Rechtsberatung der GEW wendeten sich vermehrt Lehrkräfte. Sie fragten nach Unterstützung zur beruflichen Neuorientierung. "Hauptursache für den Wechselwunsch ist die hohe Arbeitsbelastung", sagte Hartmann.

Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung der GEW Hessen in Frankfurt arbeitet ein großer Teil der Lehrkräfte im Durchschnitt mehr als 48 Stunden pro Woche. Der Unterricht selbst mache nur noch ein Drittel der gesamten Arbeitszeit aus. Die zusätzlichen Aufgaben - also Konferenzen, Elterngespräche, administrative Vorgänge oder ähnliches - nähmen fast 40 Prozent der Arbeitszeit in Anspruch. "Die zusätzlichen Aufgaben wachsen zudem immer weiter an." Es gebe aber keine zusätzlichen Ressourcen dafür.

Auch Schulleitungen geben auf

Die hohe Arbeitsbelastung betreffe nicht nur Lehrkräfte, sagt Hartmann. Auch die Zahl der Rückernennungen von Schulleitungsmitgliedern zur normalen Lehrkraft steige. Mittlerweile seien hessenweit etwa 200 Leitungsstellen nicht besetzt. Ausschreibungen müssen oft mehrfach wiederholt werden, bis sich Bewerbende auf diese früher sehr begehrten Stellen meldeten. Stark betroffen seien Schulen im Rhein-Main-Gebiet. Ausgesprochen häufig seien diese Stellen an Grundschulen vakant. Dort gebe es besonders wenig Entlastung vom Unterrichtsbetrieb.

Beachtenswert auch laut GEW: Die Teilzeitquoten bei Lehrkräften steigen, insbesondere bei Menschen mit zusätzlichen familiären Verpflichtungen. Viele Lehrkräfte reduzieren deswegen ihre Stelle, um ihre Arbeit in einem angemessenen Zeitrahmen zu schaffen. Dafür verzichten sie im Umkehrschluss auf Gehalt und Pensionsansprüche, verdeutlichte Hartmann.

Teufelskreis aus Überlastung und Mangel

Dies alles führt laut Hartmann zu einem "Teufelskreis aus Überlastung der Lehrkräfte im Schuldienst und einem immer größeren Lehrkräftemangel". Die Folge: Die Qualität des Bildungsangebots sinke. Zu Beginn des Schuljahres zeigten sich auch Schüler und Elternvertreter unzufrieden mit der äußerst angespannten Lage.

Der Hessische Philologenverband bedauert das vorzeitige Ausscheiden von Lehrkräften. Zwar müsse jeder Fall einzeln betrachtet werden, aber es sei gut möglich, dass die steigenden Belastungen Schuld seien. Angesichts des Fachkräftemangels fänden Lehrkräfte womöglich auch in der freien Wirtschaft attraktive Jobs. Der Trend, die Schulen zu verlassen, müsse gestoppt werden. Es dürfe nicht immer mehr Aufgaben-Erweiterungen geben. Der Verband plädiert dafür, die Pflichtstundenzahl zu senken.

Das hessische Kultusministerium zeigt sich von den Zahlen zur Absetzbewegung weit weniger beeindruckt. Angesichts der hohen Zahl an Lehrkräften liege die Fluktuation auf einem "sehr geringen Niveau". Die Entwicklung sei "unproblematisch". Die Versorgung der Schulen genieße besonders hohe Priorität. Es gebe Zuweisungen in ausreichendem Maße.

Millionen-Investitionen zur Entlastung eingeplant

Die Landesregierung versucht die Schulleitungen und Lehrkräfte von bürokratischen Aufgaben zu entlasten und stellt zunehmend Mittel für Verwaltungskräfte an Schulen bereit. Im aktuellen Schuljahr gebe es dafür hessenweit 20 Millionen Euro, im nächsten Jahr 25 Millionen Euro, so das Kultusministerium. Damit könnten rechnerisch 500 Stellen finanziert werden. Die Schulträger könnten selbst flexibel über den Einsatz entscheiden.

Auch das Ministerium sieht offenbar wachsenden Bedarf aufgrund zunehmender Herausforderungen. "Schule muss heute, weil die Gesellschaft dies nicht mehr wie früher übernimmt, immer mehr Aufgaben übernehmen, die sonst beispielsweise im Elternhaus lagen. Zudem sind sie im besonderen Maße von Zuwanderung betroffen. Das führt zu einer Mehrbelastung."

Exit-Beratungen helfen Lehrkräften beim Absprung

Wie auch immer die Mehrbelastung zustande kommt - bei immer mehr Lehrern führt dies zum Jobwechsel-Wunsch. Um diesem bundesweit zu beobachtenden Trend entgegenzukommen, gibt es mittlerweile Menschen, die Lehrkräfte bei diesem großen Schritt begleiten: Exit-Berater.

Isabell Probst ist eine von ihnen. Sie hat sich vor acht Jahren selbstständig gemacht als Laufbahn- und Karriere-Coach. Die Nachfrage von Hilfesuchenden aus ganz Deutschland ist mittlerweile so groß, dass sich ihre One-Woman-Show zu einer Firma mit mittlerweile zehn Festangestellten entwickelt hat.

"Der Leidensdruck ist sehr hoch. Wir mussten wegen des Bedarfs von der Einzelbetreuung zu Gruppenberatungen übergehen", berichtet Probst. In den fünf Jahren seit der Firmen-Gründung hat sie mit ihrem Team rund 2.000 Menschen beraten. Zwar sei es nicht das Ziel, Lehrer zu Kündigungen zu bewegen. Aber 60 Prozent hätten danach einen neuen Job außerhalb des Schulbetriebs gefunden.

Exit-Beraterin Isabell Probst

Einige Ex-Lehrer arbeiten in Hundeschulen oder als Bestatter

Vielen Ex-Lehrkräfte hätten therapeutische Berufe gewählt, seien ins Projektmanagement gewechselt oder nun als Bildungsreferenten tätig. Einige hätten aber auch exotische Berufe gewählt. "Es gibt Leute, die sind Künstler geworden, arbeiten in Hundeschulen oder sind Bestatter geworden." Wer den neuen Weg zügig einschlagen will, kann den Sprung in den neuen Wunsch-Job in einem halben Jahr realisiert haben.

Den Wunsch den Schulbetrieb zu verlassen, kann Probst gut nachvollziehen. Sie war selbst acht Jahre Lehrerin für Englisch und Geschichte an einem Gymnasium in Bonn. Doch mit fortlaufender Zeit wurde sie immer unzufriedener. Ihren Anspruch an Wissensvermittlung nach dem Stand der Wissenschaft konnte sie nicht umsetzen. Angesichts der Mangelverwaltung könne man nur "pädagogische Triage" betreiben, also eine Notversorgung nach Priorität.

Lehrer, die sich bei ihr melden, klagten meist über Dauerstress. Sie berichteten von Schlafstörungen, Depressionen, Rückenschmerzen, Magengeschwüren und Problemen im Privat- und Beziehungsleben. Der Stress sei mitunter auf die hohe Lautstärke in den Klassen, die enorm hohe Zahl an fordernden Sozialkontakten und ein ständiges Konfliktmanagement zurückzuführen. "Da braucht man Nerven wie Drahtseile, um gesund durch den Alltag zu kommen." Viele hätten sie auf Dauer nicht und wählten daher den Notausgang - tschüss Schule.

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