Mann in Handschellen vor Gericht, hält sich Aktenordner vors Gesicht

Im Prozess um die getötete Schülerin Ayleen hat der psychiatrische Gutachter ausgesagt. Er sieht bei dem Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Zügen. Dies wirke sich auch auf seine Sexualität aus. Er geht davon aus: Jan P. ist voll schuldfähig und hat ein hohes Risiko, wieder zu töten.

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Psychiater sagt im Ayleen-Prozess aus

Eine Kerze und eine Tafel mit dem Namen Ayleen liegt am Ufer des Teufelsee im hessischen Wetteraukreis, in dem die Leiche der 14-jährigen Ayleen gefunden wurde. (dpa)
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Drei Monate hat er geschwiegen, nur zugehört, beobachtet und sich Notizen gemacht. Hin und wieder hat er kleine Rückfragen gestellt, wenn Zeugen ausgesagt haben. Aber jetzt redet Hartmut Pleines, fast eineinhalb Stunden am Stück.

Die Aussage des psychiatrischen Gutachters war im Prozess vor dem Gießener Landgericht um die im Juni 2022 getötete Schülerin Ayleen mit Spannung erwartet worden. Der Heidelberger Psychiater und Neurologe Pleines gilt als einer der renommiertesten Gutachter auf seinem Feld, er hatte zum Beispiel auch 2011 im Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann ausgesagt.

Gutachten hat hohe Relevanz im Prozess

Im Gießener Mordprozess ist sein Gutachten aus verschiedenen Gründen von hoher Relevanz: Pleines soll die Frage klären, ob beim Angeklagten Jan P. psychische Erkrankungen oder Störungen vorliegen. Außerdem: Wie schuldfähig ist er? Wie intelligent? Und wie gefährlich für die Zukunft?

Dies könnte Auswirkungen auf die Entscheidung des Gerichts bezüglich einer möglichen Bestrafung haben, besonders im Blick auf eine eventuelle Sicherungsverwahrung im Anschluss an eine Haftstrafe.

Gutachter arbeitete sich durch kompletten Lebenslauf

Pleines Gutachten sei gut durchstrukturiert, das bemerkt auch die Vorsitzende Richterin im Anschluss anerkennend. Systematisch und in klaren Worten hat sich der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie durch den Lebenslauf des Angeklagten gearbeitet, beginnend mit seiner Geburt über frühere Auffälligkeiten und dann bis heute – und schließlich mit Blick in die Zukunft.

Pleines hatte P. im Oktober vergangenen Jahres zwei Mal getroffen und für insgesamt acht Stunden mit ihm gesprochen. Dabei hatte P. offenbar auch bereitwillig Auskünfte gegeben. Zudem hatte der Psychiater den Prozess vor Ort mitverfolgt und Zugriff auf Akten aus der Vergangenheit des Angeklagten. Einer medizinischen Akteneinsicht hatte P. allerdings widersprochen.

Familienverhältnisse: "Hypothek" aber nicht alleinige Ursache

Pleines bezieht sich in seinem Gutachten auf zahlreiche Details aus P.s Lebenslauf, die bereits aus dem Prozess bekannt sind: Die desolaten Familienverhältnisse mit einem alkoholkranken Vater und einer Mutter mit offenbar "schwierigen Persönlichkeitszügen".

Pleines meint: P. habe als Kind kaum emotionalen Rückhalt, Fürsorge und Korrektur erfahren. Höchstwahrscheinlich sei auch die "Inzestschranke" nicht stabil gewesen, meint er mit Bezug auf verschiedene Vorwürfe, es habe in der Familie auch sexuellen Missbrauch gegeben.

Pleines betont: Das Familienmilieu sei nie allein ausschlaggebend für die weitere Persönlichkeitsentwicklung, aber ein wichtiger Faktor. Durch die schwierigen Umstände habe P. dadurch sozusagen eine "Hypothek" aus Kindheitstagen gehabt.

"Völlig fehlende Lenk- und Leitbarkeit"

Schon früh habe sich dies bei P. in "oppositionellem Verhalten" gezeigt, so der Gutachter: Diebstähle, Brandstiftung, sexuelle Übergriffigkeit schon vor der Pubertät. "Er entgleitet allen, die sich mit ihm befassen", so Pleines und spricht von einer "völlig fehlenden Lenk- und Leitbarkeit".

Der Psychiater meint: Daran hätten auch die zehn Jahre nichts geändert, die P. infolge seiner ersten Verurteilung wegen eines Sexualdelikts ab 2007 in der forensischen Psychiatrie verbrachte. Verhaltensweisen von vorher hätten sich danach fortgesetzt und sogar noch verfestigt, meint er.

Dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Zügen

Pleines ist überzeugt: P. besitzt kein intaktes Gerüst aus sozialen und ethischen Normen und Werten. Er beschreibt den Angeklagten als hochgradig egozentrisch, empathielos und desinteressiert an anderen Menschen. "Mitleid findet nicht statt, der andere Mensch ist etwas Schwarzweißes ohne Innenleben für ihn."

Auf fremdes Leid und auch auf das, was ihm im Prozess vorgeworfen wird, zeige der Angeklagte keine emotionale Resonanz. "Und wo kein Gefühl ist, ist auch keine Reue und dementsprechend auch keine Schuld." Er sagt: P. sei vollkommen unfähig zur Selbstkritik, daran habe auch der Maßregelvollzug nichts geändert.

Pleines kommt zu dem Ergebnis: Bei Jan P. liege eine sogenannte dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, die begleitet werde von psychopathischen Zügen. Der Gutachter betont: Dies sei keine psychische Erkrankung, etwa im Sinne einer Schizophrenie oder manischer Depression.

Er habe auch keine sexuelle Paraphilie feststellten können, also keine Bindung von Sexualität an "ungewöhnliche Praktiken", etwa Sadismus. Aber: P.s Sexualität sei maßgeblich eingebettet in die dissoziale Persönlichkeitsstörung: aggressiv, dominanzorientiert, grenzüberschreitend. Dies bezeichne man als "Dissexualität", so Pleines. "Das ist aber keine Diagnose, sondern lediglich eine Verhaltensbeschreibung."

Intelligenz des Angeklagten: Keine Auswirkungen auf Schuldfähigkeit

Ebenfalls offen war im Laufe des Prozesses gewesen, ob bei P. möglicherweise eine Intelligenzminderung vorliegt. Diese war bei seiner ersten Verurteilung 2007 festgestellt worden.

Pleines bezieht sich nun auf das aktuelle Untersuchungsergebnis einer Psychologin: P. hat demnach einen IQ von 76. Damit liege er unterhalb des Durchschnitts von 85 bis 115. Dadurch gelte er aber nicht als intelligenzgemindert, sondern als lernbehindert. Auf die Schuldfähigkeit habe dies keinen Einfluss, so Pleines.

Risiko für die Zukunft: P. könnte wieder töten

Abschließend bezieht der Gutachter sich noch auf die mögliche Rückfallgefährdung des Angeklagten in der Zukunft. Er betont: Hier handle es sich nie um Vorhersagen, sondern lediglich um Wahrscheinlichkeitsaussagen.

Pleines kommt zu dem Schluss: Jan P. zeige eine "stabile biografische Disposition Straftaten zu begehen" und "eingeschliffene Verhaltensschablonen". Die Art, wie er noch zu weiteren jungen Mädchen Kontakt aufgenommen habe, zeige einen klaren Modus Operandi, der rein theoretisch ähnliche Ergebnisse hätte haben können wie im Fall Ayleen.

Bildlkombination: Foto eines Sees inmitten einer Landschaft links und rechts ein unkenntlich gemachtes Portraitfoto der toten Ayleen.

P. zeige zudem kein Interesse, die Taten innerlich aufzuarbeiten und habe signalisiert: Er hoffe im Strafvollzug vor allem auf uneingeschränkten Medienkonsum und wolle ansonsten in Ruhe gelassen werden, auch von therapeutischen Maßnahmen.

Pleines meint: Es sei wahrscheinlich, dass P. wieder in ähnlicher Weise Kontakte zu Frauen über Soziale Medien aufnehmen werde. "Nichts spricht dafür, dass er dann Beziehungen zu Frauen anders gestalten würde, wofür er ja auch keine Erfahrungen hat."

Aus Sicht des Gutachters besteht deshalb eine "dezidierte Risikoverfassung", dass Jan P. weiter sexuelle Straftaten begehen könnte - und auch sexuell motivierte Tötungsdelikte.

Das Gericht muss schon bald entscheiden, was es aus diesem Gutachten konkret schließt. Am kommenden Montag werden zunächst die Plädoyers gehört: von der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung auch von der Anwältin der Nebenklage, die Ayleens Mutter vertritt. Ein Urteil wird ebenfalls kommende Woche erwartet.

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