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Jugendkriminalität in Marburg stark gestiegen

Zwei Hände, die mit Handschellen auf dem Rücken zusammengehalten werden.

Die Jugendkriminalität in Hessen ist jahrelang gesunken. Jetzt steigt sie wieder – und das nicht nur in Großstädten. Etwa in Marburg beobachtet die Polizei derzeit einen besonderen Anstieg.

In Wetzlar (Lahn-Dill) überfällt ein 14-Jähriger mehrmals andere Jugendliche mit einem Klappmesser und raubt sie brutal aus. In Wächtersbach (Main-Kinzig) wird ein 16-jähriger Intensivtäter verhaftet, er soll jemanden mit einer Axt attackiert haben. Und am Heppenheimer Bahnhof (Bergstraße) zieht gleich eine ganze Jugendgruppe vermummt durch die Innenstadt – die Polizei stellt Messer und ein Fleischerbeil sicher.

Spätestens seit der Tötung der zwölfjährigen Luise aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg steht die Frage im Raum: Gibt es wieder mehr kriminelle Jugendliche - oder sogar Kinder?

In Hessen sind die Fallzahlen jahrelang kontinuierlich gesunken. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 erreichten sie sogar ein historisches Tief. Diese Zeiten haben sich inzwischen geändert. Anfang März hieß es bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik aus dem vergangenen Jahr: Die Jugendkriminalität in Hessen sei im vergangenen Jahr erstmals wieder gestiegen, das gebe der hessischen Polizei zu denken. Und: Die Tatverdächtigen seien immer jünger und gewalttätiger.

Beispiel Marburg: Deutlicher Anstieg in der Innenstadt

Meistens geht es um kleinere Delikte: Ladendiebstahl, Schwarzfahren, einfache Körperverletzung. Betroffen sind nicht nur Großstädte, in denen schon länger über Alkohol- und Waffenverbotszonen diskutiert wird. Die Polizei in Mittelhessen, die an diesem Freitag ihre regionalen Zahlen vorstellte, beobachtet derzeit einen auffälligen Anstieg im eigentlich sonst als so beschaulich bekannten Marburg.

Menschen sitzen und stehen auf Stufen vor Unigebäude

In der Universitätsstadt sind die Zahlen von Straftaten durch Menschen zwischen 12 und 21 Jahren laut Polizei in letzter Zeit besonders deutlich angestiegen – hier gehen sie sogar noch über das Vor-Corona-Niveau hinaus. Besonders rund um die Lahnterrassen und das Marktdreieck, einem innerstädtischen Bereich in der Nähe der Uni-Mensa, kommt es laut Polizei seit Monaten immer häufiger zu Vorfällen.

Auffällig brutal: Schläge mit Eisenstange

Einige der Vorfälle sind zudem auffällig brutal: Im Februar wurden zwei Teenager verhaftet, sie sollen einen jungen Mann mit einer Stange zusammengeschlagen haben. Wegen versuchten Mordes stehen derzeit noch zwei andere Jugendliche in Marburg vor Gericht. Auch sie sollen einen Mann mit einer Stange verprügelt haben. Hier vermutet die Staatsanwaltschaft zudem ein homophobes Motiv.

Polizeisprecher Jörg Reinemer erklärt: Die Polizei sei einerseits über die Häufung beunruhigt, andererseits aber auch über die Qualität der Straftaten und das Gewaltpotenzial darin. "Uns macht Sorge, dass die Täter selbst dann nicht nachlassen, wenn das Opfer schon bewegungslos am Boden liegt, und weiter massiv auf Kopf oder Oberkörper einwirken."

Reinemer spricht von "losen Gruppen", die sich in der Innenstadt ohne klar erkennbare Anführer zusammenfinden würde. "In den vergangenen Monaten haben wir mehrere Jugendliche verhaftet, aber dadurch ist keine Ruhe eingekehrt." Die genauen Gründe für die Situation in Marburg sind laut Polizei derzeit noch unklar.

Polizeigewerkschaft sieht Gründe bei Erziehung

Auch bei der Deutschen Polizeigewerkschaft kennt man die Problematik rund um die hessenweit wieder zunehmende Jugendkriminalität. Landesgeschäftsführer Alexander Glunz sieht als einen der Gründe dafür die Erziehung. Er meint: Eltern seien heute weniger präsent im Leben ihrer Kinder, viel Verantwortung für die Erziehung werde den Institutionen überlassen – wo allerdings überall Personal fehle.

Hinzu komme, dass sich während der Pandemie die Lockdowns und das Fehlen von Kontakt negativ auf viele junge Menschen ausgewirkt hätte. In dieser Zeit sei zudem phasenweise die Aufsicht durch Schulen und andere Einrichtungen weggefallen.

Gewerkschaft kritisiert Personalmangel

Glunz kritisiert außerdem: Die Polizei sei personell ausgedünnt und bekomme von der Politik immer neue Aufgaben zugewiesen. "Wir sind derzeit mit so vielen internen Prozessen beschäftigt, dass wir auf den Straßen immer weniger präsent sein können – eigentlich unsere Kernaufgabe."

Die Folge aus Sicht der Gewerkschaft: Frühe Anzeichen von kriminellem Fehlverhalten würden zu lange unerkannt und ohne Konsequenzen bleiben. Alexander Glunz ist überzeugt: Ein früher "Warnschuss" durch die Ordnungsbehörden könne kriminelle Karrieren frühzeitig beenden. "Manchmal werden Verfahren bei kleineren Delikten aber auch mangels Personal eingestellt."

Die Polizeigewerkschaft spricht sich außerdem für den Ausbau von Präventivangeboten aus, etwa von Häusern des Jugendrechts. Um Jugendkriminalität in Hessen zu verringern, hat die Landesregierung in den vergangenen Jahren sechs Anlaufstellen eingerichtet, in denen junge Straftäter betreut und Hilfsangebote verknüpft werden - mit nachweislichem Erfolg, ergab kürzlich eine Studie. Bisher gibt es solche Häuser allerdings nur in den Großstädten und eines in virtueller Form in Fulda.

Sozialpsychologe: "Deutschland wird nicht gewalttätiger"

Mehr Präventionsangebote fordert auch der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner. Er sagte in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst: Es gebe an Schulen und in Kitas gute Präventionsarbeit, jedoch würden junge Erwachsene aus dieser Arbeit herausfallen, wenn sie die Schule verlassen haben. Aus seiner Sicht müssten Kommunen stärker mit einbezogen werden.

Wagner sieht allerdings kein generelles Gewaltproblem in der Gesellschaft. "Es ist nicht so, dass Deutschland immer gewalttätiger wird." Er verweist auf die seit 15 Jahren zurückgehenden Zahlen von Gewalt. Allerdings häuften sich seit einiger Zeit in den Kommunen die Klagen der Polizei über Einzelfälle von Gewalt, so der Wissenschaftler.

Bild eines Mannes, der in die Kamera blickt

Dabei handele es sich oft um Gruppentaten, in denen gruppendynamische Faktoren eine Rolle spielten, zum Beispiel: Eine Gruppe Jugendlicher raube einem anderem das Handy. Wichtig sei dabei nicht in erster Linie das Raubgut. Die Jugendlichen wollten vielmehr in der Gruppe deutlich machen, wie stark sie sind - und Ansehen gewinnen. Täter seien fast immer Jungs, teilweise auch in sehr jungem Alter.

Die Tötung der Zwölfjährigen aus Freudenberg halte er für einen "absoluten Einzelfall", sagte Wagner. "Gewalttaten von dieser Brutalität, in dem Alter, ausgeführt von zwei Mädchen, passieren fast nie."

Marburg: Mehr Überwachung

In Marburg wurde auf die gestiegenen Fallzahlen bereits reagiert: Polizei und Ordnungsamt kontrollieren vermehrt in der Innenstadt, die Stadt hat dafür Personal aufgestockt und setzt neuerdings Hunde ein. Im Hinblick auf Präventionsangebote verweist die Stadt auf verschiedene aufsuchende Streetwork-Angebote und Jugendtreffs, die es bereits gibt, beispielsweise von Kirchen.

Diskutiert wird auch, wie das Sicherheitsgefühl in den betroffenen Stadtgebieten verbessert werden kann, beispielsweise durch mehr Videoüberwachung oder Anlaufpunkte für Menschen, die Hilfe brauchen. Eine Waffenverbotszone könne man allerdings in Marburg nicht einrichten, so die Stadt - aus rechtlichen Gründen.

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