AfD-Spitzenkandidatin Christine Anderson Per Dexit aus dem "Höllenloch"
Sie ist eine Höcke-Vertraute, Social-Media-Liebling der Rechten und malt über die Zukunft Europas den Teufel an die Wand: Als hessische Spitzenkandidatin tritt Christine Anderson für die AfD bei der Europawahl an. Dabei würde sie das Parlament am liebsten abschaffen.
Als der Evangelist Johannes sich den Weltuntergang vorstellte, ließ er einen Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern aus dem Meer steigen. Würde Christine Anderson die Apokalypse ausmalen, sie käme vielleicht mit zwölf Sternen auf blauem Grund aus.
Die Europäische Union mit ihrer Sternchen-Flagge - ein "Höllenloch". Darunter macht es die 55-Jährige bei ihren Warnungen nicht. Das EU-Parlament? Ein "Irrenhaus".
In diese Einrichtung will Anderson am 9. Juni als Spitzenkandidatin der hessischen AfD wiedergewählt werden.
Kampf gegen den Rauswurf
Es sind nicht die Zustände im gesamten Europaparlament, die Anderson in diesen Tagen unter Stress setzen. Als Chefin der AfD-Delegation versuchte sie vergeblich, in letzter Sekunde den Rauswurf ihrer Truppe aus der multinationalen Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie (ID) zu verhindern.
Ihre Bitte, allein Maximilian Krah auszuschließen, fand kein Gehör. Der inzwischen aus Vorstand und Wahlkampf abgezogene Spitzenkandidat der Bundes-AfD hat seine Partei mit der Verharmlosung der SS sogar im rechten Lager in Misskredit gebracht.
Dass ausgerechnet sie es war, die in der Krah-Frage einen Last-Minute-Ausgleich zwischen AfD-Spitze und der ID suchte: Es sagt einiges über den Zustand der Partei. Und über Andersons Aufstieg.
Die Frau, vor der die Parteispitze warnte
"Laut, grob, angriffig": Für Politiker ist das nach einem aktuellen Bekenntnis der Hardlinerin ein Lob. Manchem ist sie zu angriffig, nicht nur in der um ein bürgerliches Image bemühten hessischen AfD. Die Bundesvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla waren regelrecht alarmiert, als Anderson sich im März zur AfD-Delegationchefin wählen ließ.
Unruhe werde sie in Brüssel verursachen, "nicht zuletzt im Verhältnis zu unseren Partnerparteien", lautete die Prophezeiung der Parteichefs, wie die Zeitung Welt berichtete. Dank Krah kann Anderson den beiden Widersachern in Berlin vorhalten, sich auf die Falsche konzentriert zu haben.
Verärgert hielt sie in einem von Politico Europe veröffentlichen Brandbrief an den AfD-Bundesvorstand fest, die ID-Fraktion habe von der Parteiführung eine Distanzierung von Krah erwartet. Die sei "allerdings ausgeblieben".
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Glauben an die Ordnung verloren
2013 trat Anderson in die frisch gegründete AfD ein, die damals als euroskeptische Professorenpartei galt und vom Verfassungsschutz noch nicht als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft war. Vorher habe sie sich 20 Jahre um die Kinder gekümmert. Sie spricht von der Ankunft in einer politischen Heimat, nachdem sie in der Finanzkrise den Glauben verloren habe, die Welt sei "im Großen und Ganzen in Ordnung".
Kritiker würden vom Einstieg in die Radikalisierung sprechen. In der islamkritischen Pegida-Bewegung wurde Anderson Aktivistin, wie der Spiegel 2018 schrieb. Sie machte auch Kommunalpolitik, war Fraktionsvorsitzende im Kreistag von Limburg-Weilburg, nach einem Umzug ist sie seit 2020 Vize-Vorsitzende der AfD im Kreis Fulda. Einen Wohnsitz hat sie auch in Brüssel.
Eigentlich nicht mehr Nummer vier
Zog sie 2019 noch als Nummer acht der AfD ins Europaparlament, steht sie diesmal auf Platz vier. Im Grunde ist Anderson weiter, zumal die vor ihr platzierten Krah und Petr Bystron nach Skandalen von der Partei mit Auftrittsverboten belegt wurden.
Im Wahlkampf wirbt die Partei jetzt vor allem mit dem Listen-Dritten René Aust, der auch als künftiger Delegationschef in Straßburg gehandelt wird. Der europäischen Rechten wird ein Wahlerfolg vorausgesagt, doch die AfD ist nach Erfolgen wie dem bei der Hessen-Wahl im Herbst inzwischen skandalbedingt im Umfragetief. Trotzdem darf Andersons Wiedereinzug als gesichert gelten – und ihr gutes Standing.
In Andersons Bedeutungszuwachs spiegelt sich nicht zuletzt die expandierte Macht des rechtsextremen "Flügels" um den thüringischen Landesparteichef Björn Höcke. Bis sich die parteiinterne Strömung wegen der Beobachtung durch den Verfassungsschutz offiziell auflöste, war Anderson deren Obfrau in Hessen.
Die "liebe Christine" zählte Höcke schon vor Jahren "zu den engagiertesten Mitstreitern, die mir in unserer Partei begegnet sind". Die Wertschätzung beruht bis heute auf Gegenseitigkeit. "Björn Höcke ist immer mein Freund gewesen", sagt Anderson. "Er ist ein großartiger Vertreter unserer Positionen."
Eine Frau steht ihren Mann
Neu-Anspach im Taunus, Anfang Mai: Wer die Positionen Andersons kennenlernen will, ihren Stil und ihr Selbstverständnis, dem erteilt sie an einem Freitagabend beim Europawahlauftakt der Hessen-AfD ein Kompaktseminar.
Kurzhaarfrisur, Anzug in Goldglanz mit Stehkragen-Oberteil, in der Wortwahl oft und in der Lautstärke gelegentlich am Anschlag: So mögen sich Sympathisanten der Partei eine Frau vorstellen, die im Jahr 2024 als eine begrüßt wird, "die in Brüssel ihren Mann steht".
Den rund 200 AfD-Gegnern, die sie vor der Halle mit Pfiffen begrüßten, hat Anderson Küsschen zugeworfen. Nun, auf der Bühne, tritt sie als Volkstribunin gegen die böse Seite der Macht und eine nach Tyrannei strebende Elite auf.
Schwarz-weiß
Grautöne gibt es in dieser Welt nicht. Die EU: der Angriff eines "abgrundtief bösartigen Haufens" auf Freiheit, Eigentum, Heimat und die kulturelle Identität der Bürger. Das Europaparlament: ein "Stuhlkreis gesinnungsethischer Weltenretter". Der Migrationspakt mit schärferen Asylregeln: eine "Beruhigungspille für das Volk".
So geht es weiter. Folge der Einwanderung: Frauen seien auf deutschen Straßen Freiwild, es drohe "vermutlich der Umbau zum islamischen Land". Der Green Deal gegen den Klimawandel: ein "Hirngespinst", das den Menschen Geld aus der Tasche ziehen soll.
Aus dem Applaus wird Jubel, wenn sich die 55-Jährige die Genderpolitik vornimmt – oder die Journalisten im Saal: "Die freie Presse, ich lach' mich tot", ruft sie ihnen zu. Wo die Medien denn gewesen seien, als in der Coronazeit die Meinungsfreiheit abgeschafft und Grundrechte zum Privileg geworden seien.
Gut nur, dass es Anderson gibt, findet Anderson. "Ich berühre die Menschen und lege den Finger in die Wunden, die Menschen endlich verarztet haben wollen", sagt sie später vor laufenden Kameras . Interviews mit den Öffentlich-Rechtlichen? Reine Höflichkeit. "Ich bin freundlich, ich tue das. Aber ich brauche Euch nicht", betont sie.
"Ich berühre die Menschen"
Das trotzige Selbstvertrauen kann auf Fakten verweisen. Die AfD-Politikerin hat Reichweite in den sozialen Netzwerken. Auf YouTube, Facebook oder X (Twitter), wo sie rund 318.000 Follower hat, landete sie mehr als einmal einen Hit für ein rechtes Publikum in aller Welt.
Gelegenheiten dazu lässt sich Anderson nicht entgehen. Etwa die von Ende April. Da drehte ihr das Parlamentspräsidium in einer Debatte über einen Corona-Impfstoffvertrag zwischen EU und dem Pfizer-Konzern einige Sekunden vor Ablauf der Redezeit das Mikro ab.
Es sei schlimm genug, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) korrupt sei, hatte Anderson vorher geätzt. "Ein Parlament aber, dass diese Korruption deckt, ist es ebenso und beraubt...", fügte sie an, weiter kam sie nicht. In einem Clip ließ die AfD-Frau anschließend den Alarm für die nach ihrer Darstellung bedrohte Freiheit der Rede schrillen.
Heldin der Querdenker
Geradezu ein Star ist Anderson in der kanadischen Querdenker-Bewegung: Als Heldin wird sie in Foren gefeiert, seit sie Premier Justin Trudeau bei dessen Auftritt vor dem Europaparlament 2022 wegen seiner Pandemiepolitik als "Schande für die Demokratie" angiftete. Zupass kam der gebürtigen Eschwegerin dabei das fließende amerikanische Englisch, das sie erwarb, als sie in den USA lebte.
"Mister Trudeau, you are disgrace for any democracy": Wie sie stolz auf Facebook verbreitete, schaffte es die AfD-Frau aus Deutschland damit unter anderem in die Sendung des Quotenkönigs, Verschwörungstheoretikers und Trump-Unterstützers Tucker Carlson beim US-Sender Fox News.
Wellen bis nach Kanada
Vergangenes Jahr schlug der Eklat noch einmal hohe Wellen in der kanadischen Innenpolitik. Die Abgeordnete reiste – laut t-online von Querdenkern finanziert – durch das Land. Abgeordnete der Konservativen gerieten nach einem Treffen mit Anderson in die Schlagzeilen..
Premier Trudeau forderte vor den Kameras von CTV News und anderen Sendern wegen der Anderson-Kontakte, die Oppositionspartei müsse sich endlich von Leuten trennen, die sich "hasserfüllt, abscheulich, intolerant" äußerten.
Oppositionsführer Pierre Poilievre fühlte sich genötigt, sich von Anderson zu distanzieren. Aus einer Mitteilung seines Büro zitierte der Nachrichtensender CBS: Die Deutsche und ihre rassistische Weltsicht seien nicht willkommen. Und weiter: "Es wäre am besten gewesen, Anderson hätte Kanada nie besucht."
Dexit statt Höllenloch
Von Brüssel aus will die AfD-Politikerin vor allem eine Wirkung entfalten: Anders als das AfD-Wahlprogramm fordert sie keine Reformen, sondern den sofortigen Ausstieg Deutschlands aus der EU. Auf demokratischem Weg also auch aus dem Parlament, dem sie angehört.
Dexit statt Apokalypse, heißt die Devise. "Ich sehe keinen anderen Weg aus diesem Höllenloch" - so sagt es Anderson.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 02.06.2024, 19.30 Uhr
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