Ungewöhnliche Häufung Kreis Groß-Gerau: Vier Verdachtsfälle auf Korruption in der Verwaltung

Bereichert haben sollen sich Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, einem Stadtwerk und einem Verband. Der mögliche Verlust öffentlicher Mittel beträgt bis zu sechs Millionen Euro. Auch wenn die Ermittlungen noch laufen, zeigen sich schon jetzt Mängel bei der Kontrolle.

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Gleich vier Korruptionsfälle im Kreis Groß-Gerau in nur einem Jahr - da lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Auch wenn die Verdächtigen nicht miteinander in Verbindung stehen, zeigen ihre Fälle doch Gemeinsamkeiten: mangelnde Kontrolle und missbrauchtes Vertrauen.

Über den Fall eines Amtsleiters der Stadt Raunheim, gegen den wegen Untreue ermittelt wird, hat der hr bereits berichtet. Nun zeigt sich, dass Staatsanwälte in drei weiteren Fällen wegen ähnlicher Verdachtslagen tätig sind. Dem Präsidenten des Landesrechnungshofs, Walter Wallmann, ist nach eigener Aussage kein Landkreis bekannt, wo es in der jüngeren Vergangenheit eine ähnliche Häufung von Verdachtsfällen auf Korruption gab wie in Groß-Gerau.

Verdachtsfall 1: Heimlich Millionenkredite aufgenommen

Der Astheim-Erfelder Entwässerungsverband (AEEV) kümmert sich seit fast 100 Jahren um die Entwässerung des Hessischen Rieds. Der Verband gehört den Kommunen Riedstadt, Trebur und Groß-Gerau sowie Landwirten aus der Region. Ende Dezember 2023 gab der Vorstand die fristlose Kündigung der langjährigen Geschäftsführerin bekannt.

Es sei aufgefallen, dass sie für den Verband Kredite in Höhe von rund zwei Millionen Euro aufgenommen habe, von denen niemand etwas gewusst habe. "Bisher steht noch nicht fest, in welcher Höhe die Beschuldigte Geld durch Barabhebungen oder Überweisungen für sich verwendet hat", teilt die Staatsanwaltschaft Darmstadt auf hr-Anfrage mit.

Nachdem der Vorstand Ende des Jahres Anzeige erstattet hat, ermittelt die Behörde wegen des Verdachts auf Untreue, Betrug und Urkundenfälschung. Ein Teil der Kredite soll auf Bankverträge zurückgehen, die vor mehr als zehn Jahren abgeschlossen wurden.

Entsetzen bei Stadtverordneten

Ein Verband mit drei Mitarbeitern und einem Haushaltsvolumen von 370.000 Euro hat das Fünffache seines Umsatzes an Schulden und merkt es nicht? Zuständig für die Kontrolle sind der Vorstand des AEEV und das Rechnungsprüfungsamt des Kreises. "Da die Mitarbeiterin die unrechtmäßig aufgenommenen Kredite außerhalb der Geschäftsunterlagen des Verbands dokumentiert hatte, war ein möglicher Korruptionsfall nicht aufgefallen", sagt eine Sprecherin des Kreises Groß-Gerau auf hr-Anfrage und auf der Suche nach einer möglichen Erklärung.

Die geschasste Geschäftsführerin des Entwässerungsverbands genoss großes Vertrauen in ihrer Heimatstadt und war dort gut vernetzt. Als Vorsitzende ihrer Fraktion im Riedstädter Stadtparlament ist sie inzwischen zurückgetreten. "Wir waren alle entsetzt, als wir von dem Verdacht gehört haben", sagt ein Stadtverordneter. Auf hr-Anfrage wollte sich die Frau nicht zu den Vorwürfen gegen sie äußern.

Verdachtsfall 2: Millionen aufs eigene Konto überwiesen

Seit Mai 2023 geben mögliche Kontrolllücken bei der Energieversorgung Rüsselsheim (EVR), die zu den kommunalen Stadtwerken gehört, Rätsel auf. Damals kam der Verdacht auf, dass sich eine Mitarbeiterin der Finanzverwaltung in drei Jahren rund 1,7 Millionen Euro auf eigene Konten überwiesen hatte.

Die EVR hat inzwischen von der ehemaligen Mitarbeiterin und Angehörigen ihrer Familie Werte von einer Million Euro sicherstellen lassen. Das soll garantieren, dass zumindest ein Teil des Geldes zurückfließt. Einem Bericht der Zeitung Main-Spitze zufolge wurden unter anderem Jetskis, ein Sportboot und zwei Autos festgesetzt.

Die Mitarbeiterin soll wiederholt unterschiedliche Geldbeträge auf ihre eigenen Konten überwiesen haben - das war offenbar niemandem in dem Unternehmen aufgefallen. Dabei hätte ein einfacher Abgleich von Kontoempfänger und IBAN den mutmaßlichen Betrug entlarvt. Denn die stimmten nicht überein. Alarm schlug schließlich eine aufmerksame Bankangestellte.

Rüsselsheims OB will Compliance stärken

Der Wiesbadener Kurier berichtete, dass Hinweise auf mögliches Fehlverhalten ignoriert wurden. So sei bereits im Jahresbericht 2020 aufgefallen, dass 500.000 Euro in der Kasse der EVR fehlten. Doch statt nach dem Leck zu suchen, entschied man sich, den Betrag auszubuchen. Als würde sich das Problem damit in Luft auflösen.

Neben dem Imageschaden kommen enorme Kosten auf die Stadtwerke zu. Die rechtliche Aufarbeitung des Falls verschlang bereits 145.000 Euro. Wie hoch der finanzielle Schaden ist, lässt sich noch nicht sagen. Im Zweifel müssen die Stadt Rüsselsheim und damit die Steuerzahler für die Schäden aufkommen.

"Der vorliegende Fall zeigt, dass die damaligen Kontrollmechanismen für Compliance und Veruntreuung nicht ausreichend waren", sagt Rüsselsheims Oberbürgermeister Patrick Burghardt auf hr-Anfrage. Als Aufsichtsratsvorsitzender will der CDU-Politiker "umfangreiche Maßnahmen" zur Verbesserung der Compliance bei den Stadtwerken einführen, wie eine Sprecherin der Stadt mitteilt.

Verdachtsfall 3: Private Ausgaben als Fortbildungskosten abgerechnet

Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen einen leitenden Mitarbeiter der Kreisverwaltung. Er soll Geld des Kreises veruntreut haben. "Der Beschuldigte soll im Zeitraum von Januar 2022 bis April 2023 im Zusammenhang mit der Abrechnung von Kosten für Fortbildungsveranstaltungen auch Kosten für private Zwecke unzulässig abgerechnet haben", berichtet ein Sprecher der Behörde. Die Höhe des Schadens lasse sich noch nicht beziffern.

Ein interner Hinweis brachte in der Kreisverwaltung Groß-Gerau den Stein ins Rollen. Nachdem die Buchungen des Mitarbeiters überprüft worden waren, erstattete der Kreis Anzeige. Der SPD-Politiker Thomas Will, der als Landrat der oberste Kommunalaufseher im Kreis Groß-Gerau ist, sieht darin ein Zeichen für "ein funktionierendes internes Frühwarnsystem".

Zu den anderen drei Fällen im Kreis will Will sich nicht äußern. Jeder sei anders gelagert, dazu fielen die Stadtwerke Rüsselsheim nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Nachbesserungsbedarf bei den Kontrollen sieht der Landrat nicht.

Verdachtsfall 4: Provision bei Grundstücksgeschäften kassiert

Zu dem Fall eines leitenden Mitarbeiters der Stadt Raunheim äußerte sich der Kreis bereits. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft Darmstadt wegen des Verdachts der Untreue. Er soll für den Verkauf städtischer Grundstücke rund zwei Millionen Euro Provision erhalten haben. 

Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren läuft. Die Kommunalaufsicht des Kreises kam nach anderthalbjähriger Prüfung zu dem Schluss, "dass die Klausel einer leistungsorientierten Vergütung im geschlossenen Arbeitsvertrag nicht mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften in Übereinklang gebracht werden kann".

Aufgrund "rechtlicher Zweifel" ordnete der Kreis die Rückforderung gezahlter Provisionen nicht an. Eine Mehrheit im Stadtparlament kämpft jedoch vehement dafür, dass der Mitarbeiter die Provision an die Stadt zurückzahlen muss.

Landrechnungshof: Kommunen müssen besser kontrollieren

Auch beim Landesrechnungshof sei die Vorbeugung vor Korruption immer wieder Thema bei den Prüfungen, sagt dessen Präsident Walter Wallmann. Im jüngsten Kommunalbericht sei herausgekommen, "dass keine Körperschaft durchweg gut aufgestellt war". Entsprechende Hinweise an die Kommunen, sie sollten ihre Kontrollsysteme verbessern, "wurden leider nicht flächendeckend umgesetzt", so Wallmann.

Auch wenn der Landesrechnungshof die Fälle aus dem Kreis Groß-Gerau noch nicht geprüft hat, weil die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen noch laufen, fordert Wallmann Wachsamkeit von den Verantwortlichen in den Kommunen: "Korruption untergräbt das Vertrauen der Bürgerschaft in die Integrität und Funktionsfähigkeit unserer öffentlichen Verwaltung."

Dieser Vertrauensverlust könne dazu führen, dass es in Teilen der Bevölkerung eine Bewegung hin zu Parteien gebe, die vermeintlich leichte Antworten anbieten, warnt Wallmann. Korruptionsrisiken in der Verwaltung zu verringern, diene auch dazu, das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie zu erhalten.

Weitere Informationen

Sendung: hr-iNFO, 07.03.2024, 7.50 Uhr

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Quelle: hessenschau.de