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Lehrermangel: "Ein halbes Jahr lang fast keinen Geschichtsunterricht"

Schülerarm mit Finger nach oben im Bildvordergrund scharf. Im Bildhintergrund unscharf ein Lehrer vor einer Tafel stehend. Auf dem Bild rechts oben ein Wahlkreuz

Bei kaum einem Thema hat die Landesregierung so viel Entscheidungsgewalt wie bei der Bildung. Ein drängendes Problem ist der Lehrermangel. Ihn spüren Schulen nicht nur jetzt vor der Hessen-Wahl.

Die neue Französischlehrerin muss erst mal den Raum finden. Es ist ihre zweite Arbeitswoche hier an der Europaschule, einer kooperativen Gesamtschule mit Grundschule im mittelhessischen Gladenbach (Marburg-Biedenkopf).

Bonjour, ça va, comment t'appelles-tu? Die vielen neuen Gesichter in der zehnten Klasse, das fremde Kollegium, die langen Flure - Inge Rein-Sparenberg muss noch alles kennen lernen.

Sie ist seit 40 Jahren im hessischen Schuldienst. Vorher arbeitete sie als Gymnasiallehrerin in Marburg. So lange hat sie unterrichtet, dass sie eigentlich seit diesem Sommer im Ruhestand sein sollte. Stattdessen waren es doch nur sechs Wochen Sommerferien. Wie immer.

Lehrerin in Klasse

Weil die Europaschule niemanden für das Fach Französisch finden konnte, wurde Inge Rein-Sparenberg vom Schulamt angefragt, ob sie nicht noch mal für ein Jahr einspringen könnte. "Und Französischunterricht kann ich ja - das mache ich gerne weiter", sagt sie.

1.000 Lehrerstellen unbesetzt

Die Not ist groß an Hessens Schulen: marode Gebäude, Lehrer an der Belastungsgrenze und vor allem steigende Schülerzahlen. Diese folgen aus den geburtenstarken Jahrgängen, dazu kommen Flüchtlingskinder, nicht zuletzt seit Beginn des Ukraine-Kriegs im Frühjahr 2022. Vor der Landtagswahl am 8. Oktober ist Bildung eines der Hauptthemen im Wahlkampf.

Vor kurzem wies die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) darauf hin, dass sich die Lage an Hessens Schulen immer weiter zuspitze, besonders mit Blick auf den zunehmenden Lehrermangel. Von "Bildungskrise" ist inzwischen die Rede, die Gewerkschaft hat Proteste angekündigt.

1.000 der rund 65.000 Stellen für Lehrer in Hessen seien derzeit unbesetzt, so die GEW. Zudem würden zunehmend Aushilfskräfte ohne pädagogische Ausbildung eingesetzt. Eine Folge: Ein Viertel der Kinder könne am Ende der Grundschule nicht richtig lesen und schreiben.

Löcher stopfen im Stundenplan

In Gladenbach spürt Schulleiter Holger Schmenk den Personalmangel jedes Schuljahr mehr, wie er sagt - vor allem dann, wenn er am Ferienende die Stunden einteile. Dieses Jahr sei das besonders stressig gewesen. Löcher stopfen, eines nach dem anderen, erzählt er: "Man fühlt sich immer mehr als Reparaturbetrieb."

Ausfälle durch Krankheit oder Elternzeiten habe es schon immer gegeben, sagt Schmenk. In den vergangenen Jahren habe er das in Zusammenarbeit mit dem Schulamt stets gut mit Vertretungskräften ausgleichen können. "Aber das wird immer schwieriger."

Lange kein Geschichtsunterricht

Ben Kirch geht in die 13. Klasse der Europaschule - das Abi naht. Er erzählt: Ein halbes Jahr lang habe er so gut wie keinen Geschichtsunterricht gehabt, weil die Lehrerin schwanger gewesen sei. "Am Anfang freut man sich ja, wenn man länger schlafen kann", erzählt er: "Aber irgendwann fragt man sich dann doch: Wie geht es denn jetzt weiter?"

Inzwischen gebe es eine Vertretung - sie habe den Schülern empfohlen, Geschichte lieber nicht als schriftliches Abifach zu wählen, sagt Ben: "Wir hatten einiges verpasst und hätten sonst Extra-Stunden gebraucht." Seiner Freundin gehe es ähnlich, berichtet der angehende Abiturient: "Die wollte eigentlich Kunst im Abi nehmen, da ist momentan aber auch keine Lehrerin da."

Schulamt: So viele Lehrer im Kreis wie noch nie

Schulleiter Schmenk hört solche Geschichten natürlich ungern. Er betont: Man tue an der Schule und in Zusammenarbeit mit dem Schulamt alles, was man könne, um solche Ausfälle zu vermeiden. Der Lehrermangel sei jedoch eine komplizierte Angelegenheit.

Das Schulamt Marburg-Biedenkopf teilte zu Schuljahresbeginn mit: Man habe im Kreis derzeit so viele Lehrer wie noch nie. Die Stellenanzahl sei insgesamt erhöht worden, und durch die Nähe zu den Universitäten in Gießen und Marburg könne man auf viel Personal zugreifen. Die Unterrichtsabdeckung liege bei 104 Prozent.

Mann im Flur

Das hessische Kultusministerium geht sogar davon aus, dass es in diesem Jahr in allen Schulen ausreichend Lehrkräfte geben wird, um den Pflichtunterricht nach Stundentafel erteilen zu können. Auf hr-Anfrage teilte das Ministerium mit: Es könne beispielsweise im Nachmittagsangebot oder Ganztag je nach Schule noch offene Stellen geben, der Besetzungsprozess werde noch ein paar Wochen andauern. "Eine ganz genaue Zahl der derzeit unbesetzten Stellen können wir frühestens mit der Jahresschulstatistik im November ermitteln."

Mangelfächer Informatik, Französisch, Kunst

Die Europaschule habe auf dem Papier tatsächlich insgesamt genügend Personal, erklärt Schulleiter Schmenk. Das Problem sei dabei aber die Verteilung der Lehrkräfte auf die Fächer. "Beispielsweise Informatik, Physik, Kunst, Französisch - das sind Fächer, da finden wir auf dem Markt so gut wie niemanden mehr."

Weil die Europaschule von der Grundschule bis zum Gymnasium so gut wie alle Schulformen abdecke, habe sie einen sehr breiten Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern für unterschiedliche Fächer und Lernniveaus, sagt Schmenk.

Besonders bitter findet er, dass er manchmal Bewerber ablehnen müsse. "Wenn sich der siebte mit Erdkunde und Sport bewirbt, habe ich für den leider keine Verwendung." Er meint: Man müsste schon in der Lehrerausbildung besser steuern, welche Fächerkombinationen in der Praxis sinnvoll seien und gebraucht würden.

Hessen: Weitgehend freie Fachwahl im Lehramtsstudium

Tatsächlich lässt Hessen angehenden Lehrkräften an der weiterführenden Schule bis aus wenige Einschränkungen freie Hand bei der Fachwahl. Lediglich für das Grundschullehramt gibt es neuerdings Vorgaben. Hier müssen Deutsch und Mathematik studiert werden. In vielen Bundesländern ist die Fachwahl im Studium deutlich strenger geregelt: Oft muss mindestens ein Haupt- oder ein Mangelfach dabei sein.

Das Kultusministerium teilt mit: Man habe momentan nicht vor, daran in Zukunft etwas zu ändern. Die Begründung: Man sehe sich der Berufswahlfreiheit verpflichtet. Außerdem wolle man, dass Lehrkräfte ihre Fächer nach eigenen Fähigkeiten und Präferenzen wählen dürfen, damit sie dieses fachliche Engagement dann an ihre Schülerinnen und Schüler weitergeben können.

Auch regional macht sich der Lehrermangel offenbar unterschiedlich bemerkbar. Das berichten verschiedene Schulleiter und Lehrkräfte auf hr-Nachfrage: Eine ländlich gelegene Schule hat zum Beispiel aufgrund einer schlechten Anbindung Probleme, Personal zu finden. Lehrkräfte aus Unistädten wie Marburg oder Kassel berichten dagegen, sie hätten zum Teil Schwierigkeiten, eine Planstelle in der Nähe zu bekommen.

Politik will Mangel entgegenwirken

Die Landesregierung hat in den zurückliegenden Jahren einiges getan, um angesichts steigender Schülerzahlen dem Mangel entgegenzuwirken: Es wurden zum Beispiel mehr Studienplätze geschaffen, weitere sollen folgen. Dieses Jahr wurden zudem 3.300 neue Lehrerstellen geschaffen, und Grundschullehrkräfte bekommen nun mehr Gehalt.

Zudem gibt es verschiedene Weiterbildungsansätze, um Lehrkräfte beispielsweise vom Gymnasium mehr im Förder- oder Grundschulbereich einzusetzen. Auch die Anforderungen für Quereinsteiger wurden gesenkt, was in der Opposition allerdings auch für Kritik sorgt. Ab 2024 will man außerdem ausländischen Lehrkräften den Einstieg erleichtern.

Insgesamt geht das Kultusministerium davon aus: Durch die Entwicklung der Demografie, solche Sondermaßnahmen und vor allem aufgrund von derzeit ausreichenden Studierendenzahlen werde sich die Lage im Grundschul- und Förderbereich in den kommenden Jahren entspannen. "Herausfordernd bleibt die Situation im Haupt- und Realschulbereich und in den Mangelfächern im gymnasialen Lehramt", heißt es.

Schulleiter: Job muss attraktiver werden

Der Gladenbacher Schulleiter Schmenk fordert: Um mehr Menschen für das Studium zu begeistern und zu erreichen, dass weniger Lehrkräfte irgendwann ausgebrannt hinschmeißen, müsste der Job insgesamt attraktiver gemacht werden, etwa indem man mehr Schulsozialarbeiter oder Schulassistenten einstelle und Lehrkräfte von Aufgaben entlaste, die nichts mit Unterricht zu tun haben.

Zudem brauche es innovative Lernkonzepte, um die Schüler zu mehr eigenständigem Arbeiten zu befähigen. "Solche Konzepte gibt es weltweit, aber dafür sind wir bisher in Deutschland nicht mutig genug", meint er.

Vielleicht ein kleiner Lichtblick: Schüler Ben überlegt gerade, nach dem Abi vielleicht selbst Lehrer zu werden. Allerdings nicht für Französisch oder Informatik, sondern lieber an einer Berufsschule. Aber - immerhin. Berufsschullehrer werden derzeit nämlich auch gesucht.

Das fordern Parteien vor der Landtagswahl zu Schulen:

  • Grundkompetenzen Rechnen, Schreiben und Lesen stärken, unter anderem durch eine zusätzliche Deutschstunde in den Klassen 1 und 2
  • Praktische Kompetenzen wie Vertragsabschlüsse, Altersvorsorge, Aktienhandel, Umgang mit Fake News unterrichten
  • Gegen Lehrkräftemangel: Personalbedarf zu 105 Prozent decken, damit auch bei Ausfällen der Grundunterricht gesichert ist; mehr sozialpädagogische Fachkräfte einstellen, Möglichkeiten zum Quereinstieg ins Lehramt ausweiten
  • Digitalisierung: ab Klasse 7 digitales Endgerät ermöglichen, Virtual-Reality-Raum an jeder Schule
  • Lehrermangel beenden: berufsbegleitende Qualifizierung für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger massiv ausbauen, mehr Studienplätze und ein Stipendienprogramm für Mangelfächer, mehr Verwaltungs- und Schulpsychologenstellen schaffen
  • Befristete Lehrverträge mit unbezahlten Sommerferien abschaffen
  • Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung und -betreuung im Grundschulalter inklusive Standards für Qualifikation, Personalschlüssel und Ausstattung ins Schulgesetz aufnehmen
  • Kompetenzorientierte Lernleistungsbeschreibungen als gleichwertige Alternative zu Noten etablieren
  • Neues Fach "Arbeitslehre" am Gymnasium einführen mit Inhalten wie Finanzen und Steuererklärung
  • Inklusion in Kitas und Schulen stärken, z. Bsp. durch Pools für Teilhabeassistenzen in Schulen
  • Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder schnellstmöglich umsetzen, pro Jahr 50 weiterführende Schulen in gebundene Ganztagsschulen umwandeln
  • Eine zusätzliche Stunde Politik und Wirtschaft in jeder Schulform, verpflichtender Ethikunterricht, Religion zusätzlich weiter anbieten
  • Keine Noten in Stufe 1 und 2, weniger Klassenarbeiten, mehr alternative Leistungsnachweise
  • Digitale Grundausstattung für alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I als Mietkaufmodell, Leihmodelle für bedürftige Schulkinder
  • Gegen Lehrkräftemangel: Zahl der Planstellen bei Bedarf anpassen, Fortbildungsangebote erhöhen, Qualifizierung durch berufsbegleitende Masterstudiengänge ermöglichen, zweite Schulleitung für administrative Aufgaben
  • Praxisorientierte Mittelstufenschulen ausbauen
  • Landesweit einheitliche Aufnahmeprüfungen für Gymnasien einführen
  • Schulische Erziehung durch natürlich-autoritäre Lehrerinnen und Lehrer und wirksame Sanktionen
  • Gegen Lehrkräftemangel: mehr Praxis in Lehramtsstudiengängen, einheitliche Studienzeit von zehn Semestern, keine Kettenarbeitsverträge und Entlassung in Ferienzeiten mehr, Verwaltungsassistenten einstellen
  • Kein bekenntnisorientierter Islamunterricht
  • Digitalisierung: stabiles und schnelles WLAN in Klassenräumen, Tablets für alle Schülerinnen und Schüler ab Klasse 5, Pflicht-Informatikunterricht an weiterführenden Schulen
  • Gegen Lehrkräftemangel: zusätzliche Stellen schaffen (auch an Unis), keine unbegründeten Befristungen, angestellte Lehrer das ganze Jahr bezahlen, Grundschullehrkräfte unverzüglich nach Besoldungsstufe A13 bezahlen (statt wie von Schwarz-Grün beschlossen stufenweise bis 2028, Anm. d. Red.) 
  • Klassen 1 bis 10 an gemeinsamer Schule unterrichten, unabhängig von Begabungen, Leistung, Herkunft oder Behinderung
  • Unterricht mit multiprofessionellen Teams aus Lehrkräften, Förderlehrkräften, Sozialpädagogen, Psychologen und Therapeuten 
  • Zwei Milliarden Euro für die Sanierung von Schulgebäuden und den Bau von Mensen
  • Herkunftssprachlichen Unterricht in allen in Hessen gängigen Sprachen anbieten, Ethik mit Religionsunterricht gleichstellen, mehr Politik unterrichten
  • Hausaufgaben abschaffen, Unterricht stattdessen in der Ganztagsbetreuung vor- und nachbereiten
  • Digitalstrategie Schule Hessen: flächendeckend schnelles WLAN an Schulen, digitale Lernplattformen ausbauen, Tablets statt Schulbücher, Medienkompetenz-Trainings  
  • Verpflichtender Informatikunterricht in der Sekundarstufe I 
  • MINT-Schwerpunktschulen ausbauen, MINT-Fächer durch Projekte und Unternehmensbesuche fördern 
  • Themen Wirtschaft und Finanzen im Fach PoWi stärken, Schulen sollen Politik und Wirtschaft gleichberechtigt getrennt unterrichten können 
  • Gegen Lehrkräftemangel: angemessene Verdienst-, Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, kontinuierliche Bedarfsplanung, Fachkräfteoffensive für Grund-, Förder- und Berufsschullehrkräfte, Quer- und Seiteneinsteiger in Vollzeit und berufsbegleitend gewinnen
  • Mehr Sekretariats- und Assistentenstellen, weniger Berichtspflichten für Schulleiter und Lehrkräfte
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