Schwere Waffen für die Ukraine? Dafür tritt der Frankfurter Publizist Michel Friedman als Erstunterzeichner eines weiteren offenes Briefes an Kanzler Scholz ein. Im Interview sagt er, warum er das trotz vieler Fragezeichen macht - und was jüngere Deutsche anderen Generationen voraus haben.

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Friedman: Müssen trotz vieler Fragezeichen entscheiden

Michel Friedman
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Auf den ersten offenen Brief gegen schwere Waffen aus Deutschland für die Ukraine folgte rasch das Contra in Form eines zweiten Schreibens: Von Ex-Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) über den Komiker Wigald Boning bis zum Literaten Daniel Kehlmann fordern die Unterzeichner von Kanzler Olaf Scholz (SPD), "die Entschließung des Bundestags für Waffenlieferungen an die Ukraine rasch in die Tat umzusetzen".

Damit keine falschen Kompromisse gemacht würden und Putin nicht als Sieger vom Platz gehe, sollten außerdem die Wirtschaftssanktionen auf den Energiesektor ausgeweitet werden. Zu den Erstunterzeichnern dieser Forderungen gehört der Frankfurter Jurist und Publizist Michel Friedman.

hessenschau.de: Herr Friedman, neigen Sie zu Leichtsinn in gefährlichen Lebenslagen?

Michel Friedman: Im Gegenteil, ich bin sehr vorsichtig.

hessenschau.de: Trotzdem treten Sie für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ein. Der Philosoph Jürgen Habermas hält das für ein "riskantes Pokerspiel". Russland hat ja schon mit seinen Atomwaffen gedroht.

Friedman: Das Risiko hat doch damit begonnen, das Russland bereits in Tschetschenien, in Georgien und auch 2014 auf der ukrainischen Krim einen völkerrechtswidrigen, brutalen und mörderischen Angriffskrieg geführt hat. Es begann damit, dass Russland in ganz Europa Gegner des Putin-Regimes umbringen ließ. Und es begann, indem Putin eine aggressive imperialistische Welt entwarf und zu einem Konzept von Gewalt und Krieg als Mittel der Politik zurückkehrte. Das sind die Ursachen des Risikos, dem wir derzeit ausgesetzt sind.

hessenschau.de: Die Befürchtung ist doch, dass Deutschland mit seiner Beteiligung das Risiko steigert und alles noch viel schlimmer wird.

Friedman: Zu einer Abwägung gehört nicht allein, ob Putin jetzt bereit wäre, einen Dritten Weltkrieg zu führen oder Atomwaffen einzusetzen. Es wäre dumm und unverantwortbar, das nicht ernst zu nehmen. Aber er hat bereits gesagt, dass die Ukraine gar kein Staat sei und er die Grenzen in Europa neu zeichnen wolle. Und er tut, was er gesagt hat. Da beginnt die Abwägung: Hilft man einem Staat, der sich verteidigt und dessen Regierung nach wie vor die Verteidigung will? Das sollten wir, weil der Krieg völkerrechtswidrig ist und es mehr Krieg gibt, wenn Putin merkt: Er ist damit erfolgreich.

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„Wir sollten der Ukraine helfen, weil es mehr Krieg gibt, wenn Putin merkt: Er ist damit erfolgreich.“
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Man kann doch nicht von Deutschland aus sagen, die Ukrainer sollen verhandeln, wenn Putin nicht verhandeln will, sondern mordet. Man lädt niemanden zum Kaffee ein, der Kugeln mitbringt. Man kann aber auch nicht sagen, dass die ukrainische Regierung ab irgendeinem Punkt schuld am Sterben der eigenen Bevölkerung sein wird, weil sie nicht verhandelt oder rechtzeitig kapituliert. Das ist anmaßend. Es klingt, als wollten wir nur das Beste für die Ukrainer. Aber in Wirklichkeit geht es um das Beste für uns.

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Zur Person

Michel Friedman ist promovierter Rechtsanwalt und Professor für Immobilien- und Medienrecht an der Frankfurter University of Applied Scienes. Später promovierte er auch noch im Fach Philosophie. Bundesweit bekannt wurde er in anderen Funktionen: als eloquenter und hartnäckiger Talkshow-Gastgeber und Talkshow-Gast, als Journalist, Kolumnist und Buchautor. Der 66-Jährige gehörte dem CDU-Bundesvorstand an, war Stadtverordneter in Frankfurt. Und er war für die Jüdische Gemeinde in Frankfurt und den Zentralrat der Juden aktiv - eine Zeit lang als dessen Vize-Präsident. Im Holocaust wurden fast alle Mitglieder seiner Familie ermordet.

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hessenschau.de: Die russische Armee wird jedenfalls schwer zu schlagen sein.

Friedman: Schon am Tag eins des Krieges haben wir in Deutschland gehört, die Ukraine werde höchstens eine Woche lang Stand halten. Seit Waffen geliefert werden - und Deutschland hängt dabei hinterher -, hat es die russische Armee deutlich schwerer. Und die Russen führen keinen klassischen Krieg. Sie führen einen brutalen, erbärmlichen Krieg. Sie bekämpfen vor allem die Zivilbevölkerung, bomben Städte nieder. Wir helfen nicht nur dem Land und seinen Menschen. Wir müssen dafür sorgen, dass kein anderes Land mehr mit solchen brutalen Kriegsverbrechen davonkommt.

hessenschau.de: Bei anderen Kriegen haben wir bislang auch zugeschaut. Lassen wir uns diesmal nicht auch deshalb hineinziehen, weil die ukrainische Regierung den moralischen Druck so hoch hält?

Friedman: Für mich gilt das nicht. 2014 bei der Invasion der Krim habe ich gesagt: Das ist die Generalprobe. Putin hat getestet, wie die Reaktion ist. Bei Deutschland hat er sich die Hände gerieben. Er wurde sogar mit Nord Stream 2 (der Ostsee-Gaspipeline, deren Inbetriebnahme nun abgesagt wurde, d. Red.) belohnt. Dieser Krieg hat eine Dimension, bei der man sich nicht mehr taub und blind stellen kann. Jetzt sind alle betroffen. Putin stellt alle Grundlagen freier Staaten in Frage, die seit 1945 in Europa gelten.

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„Ich habe überhaupt nicht leicht reden. Wir sind in einem Alter, in dem wir nie einen Krieg als Gegenwart haben erleben müssen. Aber meine Familie ist zerstört und vernichtet worden von Nazi-Deutschland.“
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hessenschau.de: Wenn der konventionelle Krieg eskaliert, bekommen wir beide die schlimmsten Folgen vielleicht gar nicht zu spüren: Im Panzer sitzen andere, es stehen andere im Schützengraben. Haben wir in unserer deutschen Zuschauerloge, von der der Bewaffnungskritiker Habermas spricht, leicht von Waffenlieferungen reden?

Friedman: Ich habe überhaupt nicht leicht reden. Wir sind in einem Alter, in dem wir nie einen Krieg als Gegenwart haben erleben müssen. Aber meine Familie ist zerstört und vernichtet worden von Nazi-Deutschland. Ich habe gehofft, dass ich in meinem Leben nie in eine Situation mit einem solchen Krieg gerate. Aber Europa ist der blutigste Kontinent der Moderne. Und gerade die Geschichte des Zweiten Weltkriegs lehrt, wozu Appeasement gegenüber einem Aggressor und seinen Menschenrechtsverletzungen und Angriffen führt.

Wir haben ein unglaubliches Privileg gegenüber der ganzen restlichen Welt: dass so lange Friede in Westeuropa war. Die naive Vorstellung, dies sei ein Ewigkeitsprivileg, beweist fehlenden Geschichtssinn. Schlaraffenland ist abgebrannt! Und wehe uns, wir schlafen nach dem hoffentlich baldigen Ende des Krieges wieder ein. Dann werden wir noch schlimmer erwachen als diesmal.

hessenschau.de: Der Rückhalt in der Bevölkerung für das massive Engagement, das Sie und andere in dem offenen Brief fordern, ist nicht eben überwältigend. Es scheint derzeit zwei etwa gleichgroße Lager zu geben. Muss das ein Kanzler nicht auch im Blick haben?

Friedman: Wir können von einem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wie auch von den Bundestagsabgeordneten erwarten, dass sie nach eigenem Gewissen entscheiden und nicht Meinungsumfragen hinterlaufen. Das gilt in so einer existenziellen Lage umso mehr.

hessenschau.de: Die Ausweitung des Kriegs beträfe eben die Existenz aller Menschen. Und die Tendenz in den Umfragen zeigt, dass immer mehr Deutsche Furcht vor den möglichen Folgen bekommen - und nicht nur vor den wirtschaftlichen.

Friedman: Politik muss die Ängste zur Kenntnis nehmen. Wir ringen alle in großer Unerfahrenheit und mit vielen Unbekannten um die Antworten. Diese Diskussion darf deshalb auch nicht schwarz-weiß und polarisiert geführt werden. Meine Antworten sind auch keine 100-prozentigen, sie sind über 50-prozentige. Aber entscheiden müssen wir. Entscheiden müssen Regierung und Bundestag vor allem aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen. Viele davon haben weder Sie noch ich.

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„Meine Antworten sind keine 100-prozentigen, sondern über 50-prozentige. Aber wir müssen uns entscheiden.“
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Das sind jetzt die furchtbaren Stunden, in denen Politik über Leben und Tod befindet. Und wir sind eine seit Jahrzehnten verwöhnte Gesellschaft, die nicht mehr gewohnt ist, sich solchen existenziellen Fragen zu stellen. Unsere Unschuld bekommt Risse.

In so einem schmerzvollen Prozess muss die Politik klar machen: Wir müssen uns endlich mit Realitäten befassen und dürfen nicht länger glauben, wir könnten durch Geld alles delegieren. Das ist im Übrigen eine Erfahrung, die die junge Generation der 14- bis 25-Jährigen in unserem Land als erste wieder macht. Zuerst in der Klimaschutzdebatte und nun bei einer globalen Seuche und einem Krieg.

hessenschau.de: Wenn es mit Putin hart auf hart kommt, wird diese junge Generation als erste wieder zwangsweise rekrutiert. Mein Sohn könnte dabei sein, ihr Ältester vielleicht auch. Sind die Freiheit der Ukraine und die Unversehrtheit des Staatsgebiets die vielen, vielen möglichen Opfer wert?

Friedman: Ich halte das für eine bedenkliche Perspektive. Wir sind nicht nur solidarisch mit den Ukrainern, sondern handeln auch im eigenen Interesse. Über diese Diskussion in Deutschland sind andere Länder, die früher und mehr Waffen als wir geliefert haben, sehr verwundert. Oder glauben Sie, dass sich Eltern polnischer Jungen und Mädchen nicht auch Sorgen machen?

Wenn die Ukraine jetzt kapituliert, kann das noch mehr Krieg hervorrufen. Wer denkt, wenn wir uns raushalten aus der Nummer, sind auch unsere Söhne und unsere Töchter raus aus der Nummer - das ist doch naiv. Glauben Sie, Putin könnte gegenüber anderen Ländern nicht auch irgendwelche Kriegsgründe konstruieren und dann angreifen?

hessenschau.de: Aber wie soll dann der Krieg zu einem Ende kommen?

Friedman: Meine Vorstellung ist nicht, dass die Ukraine militärisch gewinnt. Sie ist, dass Russland nicht gewinnt. Und dass es tut, was es schon 2014 hätte tun müssen und was wir schon damals von Putin hätten fordern müssen: Raus aus einem Land, das nicht deines ist!

Das Gespräch führte Wolfgang Türk.