Bioplastikscheibe

Ein neuartiger Biokunststoff aus Algen, Pilzen und Krebsschalen könnte das Material der Zukunft sein: etwa für abbaubare Mülltüten, Kosmetik oder die Beschichtung von Platinen und Backpapier. An der Uni Gießen wurde der Stoff entdeckt – rein zufällig.

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"Hessen forscht" – neuartiger Biokunststoff aus Gießen

hs 10.04.20214
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Zuerst ärgerte sich Elisabeth Pohlon: Immer bleibt alles stehen und liegen im Labor, dachte sich die Tierökologin, als sie eine benutzte Petrischale im Fachbereich Biologie saubermachen und wegräumen wollte. Dann fiel ihr aber etwas am Boden der Schale auf: ein getrockneter Biofilm. Pohlon war sofort hin und weg, als sie feststellte: Das Material fühlt sich an wie Plastik – als hätte sie einen Kunststoffteller in der Hand.

Fünf Jahre später weiß sie: Was ihr damals sofort durch den Kopf geschossen war, hat wohl noch viel größere Dimensionen, als sie zunächst annahm. Das an der Justus-Liebig-Universität Gießen rein zufällig entdeckte Material könnte bahnbrechend sein. Es hat Pohlons Einschätzung nach tatsächlich das Potential, die Kunststoff-Industrie zu revolutionieren.

Und das alles, weil ein Topf mit Algen und Krebstier-Rückständen nach einem Studien-Projekt stehengeblieben war.

Wunderstoff Chitin

Die Ausgangsrezeptur im Ursprungsexperiment einer Studentin war eigentlich als Nahrungsmittelersatz für Wasserorganismen gedacht gewesen. Sie enthielt ausschließlich organisches Material: Algen, Pilze, vor allem aber eins: Chitin.

Dieses Biomolekül steckt im Panzer von Krebstieren wie Langusten oder Shrimps, wovon in der weltweiten Fischindustrie Millionen Tonnen als Abfallprodukt anfallen. Auch in Insektenpanzern ist Chitin enthalten. Aufgrund seiner äußerst vielseitigen Eigenschaften rückt Chitin seit einigen Jahren vermehrt in den Fokus der Forschung.

Fünf Jahre Experimente

Die Zufallsentdeckung ist nun die Grundlage aller Experimente, die Pohlon gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne Vesper in den vergangenen fünf Jahren durchgeführt hat. Mittlerweile haben die beiden auf dieser Basis rund 30 verschiedene Biokunststoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften entwickelt. Manche sind hart und robust, andere dehnbar und trotzdem reißfest.

Neu sei, dass die Biokunststoffe komplett aus Abfall- und Nebenprodukten aus der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft gemacht werden, erklärt Pohlon. Bisher werde Bioplastik häufig aus Rohstoffen hergestellt, die auch als Nahrungsmittel geeignet wären, etwa Maisstärke oder Zuckerrohr.

Krebspanzer in einer Schale

"Aber wir nehmen das als Ressource, was für andere Abfall ist", so die Wissenschaftlerin. Die Forscherinnen haben mittlerweile mit unterschiedlichstem Biomüll experimentiert, sogar mit Bananenschalen, Zitrusfruchtschalen oder Stroh.

Breites Einsatzfeld

Das Wichtigste sei gewesen, dass das Material nicht schimmelt. Denn: Dabei wollten sie ohne die Zugabe von Ethanol oder Fungiziden auskommen, also Zusatzstoffen, die Pilze oder ihre Sporen abtöten. "Das war ein ganz großes Problem – dafür sind bestimmt eineinhalb Jahre drauf gegangen, bis wir die perfekte Lösung gefunden hatten", so Pohlon.

Mittlerweile sind die beiden überzeugt: Die neuen Materialien könnten in vielen Industriebereichen eingesetzt werden, etwa für die Herstellung von Tüten, Bodenbelägen, Tapeten oder für die Innenausstattung in der Autoindustrie. Auch als Ersatz für Silikon sei das Bioplastik denkbar, beispielsweise in der Kosmetik oder als Beschichtung auf Platinen oder in medizinischen Spritzen.

Weil Chitin auf bis zu 600 Grad erhitzbar ist, könnte es ihrer Meinung nach sogar möglich sein, damit Backpapier zu beschichten – oder einen kompletten Backpapierersatz zu erstellen.

Biokunststoff verrottet schnell

Das Besondere: Das Material ist nicht nur zu hundert Prozent biobasiert, sondern auch komplett biologisch abbaubar. Es zersetzt sich innerhalb weniger Wochen, wie die biologisch-technische Assistentin Vesper erläutert. Getestet haben die Forscherinnen das im Labor mit Asseln.

"Es war sehr aufregend, ob die Asseln das Material dann auch tatsächlich als Nahrung annehmen oder ob sie davon möglicherweise Schaden nehmen", erzählt Vesper. Die Tiere hätten sich aber förmlich auf das Material gestürzt, es bereitwillig vertilgt und auch gut vertragen.

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Unterschied: biobasiert und biologisch abbaubar

Biobasierte Kunststoffe werden ganz oder teilweise aus organischem Material hergestellt, etwa Mais oder Zuckerrohr. Sie können, müssen aber nicht kompostierbar sein. Geschirr aus Bambusplastik enthält beispielsweise oft Melamin-Formaldehyd als Bindemittel – also einen klassischen Kunststoff. Biobasierter Kunststoff gehört daher in den meisten Fällen in die schwarze oder gelbe Tonne. Die Ökobilanz ist zudem umstritten.
Biologisch abbaubare Kunststoffe dagegen zersetzen sich vollständig. Dies kann aber je nach Material Wochen, Monate oder sogar Jahre dauern. Zudem können auch sie chemische Zusätze oder sogar kleine Mengen erdölbasierte Polymere enthalten. (Quelle: Umweltbundesamt)

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Kreis Gießen: Material vielversprechend

Auf Interesse stößt der vielversprechende neue Stoff beispielsweise beim Landkreis Gießen. In der Kompostieranlage Rabenau wird der gesamte Biomüll aus der Stadt und dem Landkreis zu hochwertigem Kompost verarbeitet - jedes Jahr 40.000 Tonnen.

Schale mit Erde, Asseln und Fetzen

Das Problem: Die gängigen Biomüll-Tüten aus dem Handel verrotten zu langsam. Bisher werden sie in der Rabenauer Kompostierungsanlage deshalb aussortiert und als Restmüll verbrannt, so wie in vielen anderen Kompostierungsanlagen auch. Die Problematik rund um bisher gängige Biomüll-Tüten im Detail aufgearbeitet hat Quarks.de.

Umweltdezernent Christian Zuckermann vom Kreis Gießen ist zuversichtlich, dass das neue Material das Problem lösen könnte. "Wenn die Tüten tatsächlich reißfest sind und in kurzer Zeit verrotten, wäre das großartig", meint er.

Anfragen von Firmen

Inzwischen haben die Forscherinnen zwei europäische Patente angemeldet und verschiedene Prototypen für Produkte entwickelt. Als nächstes soll der Schritt raus aus dem Labor kommen. Die Forscherinnen haben mittlerweile schon mehrere Anfragen von Firmen erhalten, etwa aus dem Biotechnologie-Bereich.

Frau

Elisabeth Pohlon ist optimistisch, dass die Entwicklung marktfähig ist. So guter Dinge sei sie aber nicht immer gewesen, betont sie. Die vergangenen Jahre seien durchaus zäh und voller Höhen und Tiefen gewesen. Fast hätten die Forscherinnen zwischendurch hingeschmissen. "Wir haben monatelang keine brauchbaren Resultate erzielt – immer wieder ist was gerissen, gebrochen oder geschimmelt."

Der lange Atem hat sich ihrer Meinung nach aber gelohnt. In den vergangenen Jahren habe sie außerdem noch etwas gelernt: Manchmal sei es ganz gut, wenn mal nicht sofort aufgeräumt wird.

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