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Aus dem Kanal in die Heizung: Wie die THM mit Abwasser heizt

Große Anlage mit Rohren

Mit der Wärme aus der Kanalisation: Die Technische Hochschule Mittelhessen gewinnt jetzt Energie aus dem Abwasser Tausender Haushalte. Zehn große Hochschulgebäude können so geheizt werden. Experten sehen in der Technologie ein großes Potential.

In den langen Kellerfluren der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) in Gießen kann man es schon von weitem rauschen hören. Und was hier neuerdings nicht aus dem Gebäude raus- sondern reinfließt, ist auch deutlich zu riechen: Ein modriger, restmülltonnenartiger Geruch hängt in der Luft.

Es mufft etwas, das räumt auch Erik Greß ein, der den Einbau der neuen Abwasserwärme-Nutzungsanlage im THM-Campus Wiesenstraße koordiniert hat. Den strengen Geruch nimmt er allerdings gerne in Kauf – wenn die Hochschule dafür im Gegenzug nachhaltig und kostengünstig an Wärme kommt und ein bisher ungenutztes Potential nicht mehr einfach so davonschwimmen lässt.

"Wenn man nicht mit Abwasser zu tun hat, denkt man, das ist verrückt", meint Greß. Aber so kompliziert sei das gar nicht.

Abwasser als ungenutzter Bodenschatz

Weil Abwasser ganzjährig relativ warm ist, gilt es in Zeiten der Energiewende derzeit noch als eine Art ungenutzter Bodenschatz. Denn: Selbst im Winter betragen die Temperaturen 9 bis 12 Grad, im Sommerhalbjahr bis zu 20.

Dass das mithilfe von Wärmetauschern und -Pumpen zum Heizen genutzt werden kann, ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Während die Technologie in Skandinavien als zentraler Bestandteil einer erfolgreichen Wärmewende gilt, ist ihr Einsatz in Deutschland aber bisher noch die Ausnahme.

Erik Greß erklärt: Die THM habe dafür mit Erlaubnis der Mittelhessischen Wasserbetriebe einen massiven Abwasserkanal angezapft, der am Campus entlangführt.

Große Edelstahl-Anlage mit Rohren

Im Kanal treffe sich das Abwasser aus Gießener Haushalten und sogar noch aus der Nachbarstadt Grünberg: Warmes Wasser aus Duschen und Waschmaschinen aus tausenden Haushalten, genauso wie Abwasser aus Toiletten und Regenrinnen.

Erst werde das Wasser grob gesiebt und dann durch dicke Rohre direkt in die massive, mehrteilige Edelstahl-Anlage gepumpt, die an der THM drei Kellerräume füllt. "Mit Wärmetauschern wird dem Abwasser Wärme entzogen und es wird wenige Grad heruntergekühlt."

Durch Wärmepumpen könne dann ein Temperaturniveau generiert werden, das zum Heizen mehrerer THM-Gebäude reiche. Und während der heißen Jahreszeit funktioniere das sogar anders herum: Dann könne die THM die Technologie zum Kühlen von Laboren nutzen.

Große Anlage mit Rohren

Dann werde das Wasser wieder zurück in den Kanal geleitet. Aufgrund der Umgebungstemperatur der Erde und weil ständig neues Wasser hinzukommt, "erhole" sich dort die Wassertemperatur innerhalb weniger hundert Meter wieder von alleine, so Greß. Das sei wichtig für die Prozesse in der Kläranlage.

Experten: Zehn Prozent der Gebäude könnte man mit Abwasser heizen

Manche Experten schätzen: Etwa zehn Prozent der zum Heizen von Gebäuden benötigten Wärme in Deutschland könnte mit Energie aus Abwasser generiert werden. Auch der Bundesverband Wärmepumpe geht von einem ähnlichem Potential aus und betont: Der Durchbruch der Technologie liege nicht an der technischer Machbarkeit sondern am Umsetzungswillen der relevanten Akteure.

Lange war der offenbar wenig vorhanden. In den vergangenen Jahren, in denen auch der finanzielle Druck stieg, Alternativen zu Gas und Öl zu finden, nahm die Zahl der Projekte aber langsam zu - auch in Hessen.

Für Privatleute ist Abwasser-Wärme aufgrund der hohen Investitionskosten zwar ungeeignet. Aber immer mehr Kommunen und andere Großverbraucher öffnen sich für den "Rohstoff Abwasser" als Wärmelieferant.

Bisher vor allem bei Neubauten

Bisher ist die Technologie vor allem dann gefragt, wenn ganze Quartiere oder Gebäudekomplexe neu entwickelt werden. Denn dann kann ein Wärmetausch-System sogar direkt im Kanal integriert werden.

Wohnhochhaus AXIS, Frankfurt am Main

In Wiesbaden-Biebrich wird zum Beispiel ein Neubaugebiet mit rund 100 neuen Wohneinheiten mit Abwasserwärme versorgt. Und das 2016 fertig gebaute Luxus-Wohnhaus AXIS im Frankfurter Europaviertel wird mit einem System beheizt, das Wärme aus dem Abwasser der Messe zieht.

THM integriert System in Altbestand

Das Besondere an der THM: Sie hat es geschafft, ein Abwasserwärme-System in einen Altbestand-Campus mit mehreren Gebäuden zu integrieren, die bisher sogar als ganz besonders energie-ineffizient galten.

Die Anlage steht im Keller des elfstöckigen Gebäudes C10. Mit seiner charakteristischen gelben Backsteinfassade prägt der Block gemeinsam mit einem nahezu identischen Bau gegenüber bereits seit 1979 das Gießener Stadtbild.

Weil durch den Altbestand eine Integration des Wärmetauschers in den Kanal nicht möglich war, wird an der THM das Wasser direkt ins Gebäude reingepumpt.

Wärmeausbeute würde für 200 Haushalte reichen

Die Anlage kann nach Angaben der Hochschule mit 650 bis 850 Kilowatt heizen. Laut THM ist das so viel, wie 200 Privathaushalte verbrauchen. Oder eben: bis zu zehn große Hochschulgebäude, die in den kommenden Jahren alle an die Anlage angeschlossen werden könnten. Darunter sind zum Beispiel die Mensa, zahlreiche Hörsäle, Verwaltungsgebäude und Werkstätten. Eingespart werden sollen so etwa 300 Tonnen CO2 pro Jahr.

Gemeinsam mit einer ähnlichen Anlage im Fuldaer Löhertor-Quartier, die ebenfalls erst vor Kurzem in Betrieb genommen wurde, ist es derzeit die größte Anlage dieser Art in einem öffentlichen Gebäude in Hessen, so die THM.

Handwerker schieben großes Gerät durch Flur

Rund eine Million Euro hat der Einbau gekostet, finanziert werden konnte dies komplett aus EU-Mitteln. Aufgrund der Energiepreissteigerung rechnet die THM mit einer Amortisation des Projektes innerhalb weniger Jahre. 

THM: Bisher zufrieden mit dem Einbau

Die Anlage soll an der THM auch für Forschung und Lehre in mehreren Fachbereichen genutzt werden. Zukünftige Bau- und Energie-Experten sollen daran ausgebildet werden und Berührungsängste mit der Technologie verlieren: Architektinnen, Ingenieure oder Energietechniker. Die Anlage wird deshalb streng mit Messgeräten überwacht und permanent ausgewertet.

Der Leiter des THM-Gebäude- Facilitymanagements Jochen Stengel erklärt: Der Aufwand für die Planung und den Einbau sei zwar deutlich größer gewesen als ursprünglich gedacht. Trotzdem sei die THM bisher zufrieden mit der Anlage und würde sich wieder dafür entscheiden.

Und nach einigen Monaten im Probebetrieb sagt er: Man sei derzeit "verhalten optimistisch", dass die Anlage sogar mehr Energieausbeute liefern könnte, als bisher errechnet.

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