Das Bild zeigt eine Anzeigetafel an einem Bahngleis, auf der steht: GDL-Streik. Im Hintergrund sind eine S-Bahn zu sehen und eine Frau in hellblauer Winterjacke zu sehen.

Eine Streikwelle rollt durch Hessen. Fast täglich sind Teile der öffentlichen Infrastruktur durch Ausstände lahmgelegt. Warum es derzeit vermehrt zu Streiks kommt und welche Forderungen dabei im Fokus stehen, erläutert Streikforscher Peter Birke im Gespräch mit hessenschau.de.

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Streiknation Deutschland?

Auf eiem Schild steht: "Dieser Betrieb wir dbestreikt!"
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Ob im ÖPNV, bei der Deutschen Bahn oder im Flugverkehr. Derzeit vergeht kaum eine Woche ohne einen Arbeitskampf, der Teile des öffentlichen Lebens in Hessen lahmlegt. Ein Ende ist vorerst nicht in Sicht. Viele Menschen schwanken zwischen Frust und Solidarität.

Doch wird im Augenblick tatsächlich mehr gestreikt als in den vergangenen Jahren? Und wenn ja, was sind die Gründe dafür? Darüber hat sich hessenschau.de mit dem Historiker und Politikwissenschaftler Peter Birke vom Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität Göttingen unterhalten. Birke forscht unter anderem zur Geschichte von Arbeitskämpfen.

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hessenschau.de: Herr Birke, wenn die Straßenbahn fährt, stehen die S-Bahnen still. Wenn die S-Bahn fährt, heben die Flugzeuge nicht ab. Im Moment vermelden wir fast täglich Streiknachrichten. Täuscht der Eindruck oder wird in letzter Zeit deutlich mehr gestreikt als in den vergangenen Jahren?

Peter Birke: Es gibt tatsächlich eine Zunahme von Streiks. Letztes Jahr gab es die langen Tarifrunden mit Streiks im öffentlichen Dienst. Aktuell läuft eine Einzelhandelstarifrunde, die nach vielen Monaten immer noch anhält und die mit sporadischen Streiks verbunden ist. Dann noch die Arbeitskämpfe bei der Bahn, jetzt durch die GDL, im vergangenen Jahr durch die EVG organisiert.

Es manifestiert sich hier die Tendenz, dass zunehmend in Bereichen gestreikt wird, in denen unmittelbare Konsequenzen zu spüren sind: Im Nahverkehr, in Krankenhäusern, in Kindertagesstätten. Wir beobachten bereits seit Mitte der 2010er-Jahre: Im Bereich der öffentlichen Infrastruktur wird deutlich mehr gestreikt.

hessenschau.de: Woher kommt denn geraden in diesen Bereichen dieses hohe Maß an Unzufriedenheit?

Birke: Ich glaube, dass es einige wirklich substanzielle Probleme gibt. Zum einen die Personalsituation und Arbeitsbelastung in Bereichen der systemwichtigen Infrastruktur. Ich glaube, da hat auch die Corona-Pandemie einiges zum Vorschein gebracht. Denn einerseits wurden Beschäftigte in Bereichen wie Verkehrsinfrastruktur und Krankenpflege auf einmal als "systemwichtig" anerkannt und beklatscht. Andererseits haben sich die Arbeitsbedingungen danach kaum verbessert. Im Gegenteil.

Laut arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen haben Arbeitsbelastung, Stress und Burn-out-Phänomene in vielen Bereichen noch zugenommen. Und das leider gerade auch oft in Bereichen, in denen Menschen lebenswichtige Dienstleistungen erbringen, denken wir nur an die Kitas oder die Altenpflege.

hessenschau.de: Es geht also nicht nur um die oft unterstellte einfache Forderung nach "mehr Geld"?

Birke: Keineswegs, nein: Es gibt ja seit Jahren die Forderung nach Aufwertung dieser Tätigkeiten, es gibt die Personalknappheit. Im Streik im öffentlichen Nahverkehr kam das zuletzt sehr plastisch zum Ausdruck. Viele befragte Kolleginnen und Kollegen sagen zuerst, dass es um Anerkennung, Würde und um Arbeitserleichterungen geht.

Gleichzeitig spielt natürlich das Geld auch eine Rolle: Die Inflation, die letztes Jahr ja um die zehn Prozent erreicht hat, die steigenden Preise für Energie und Grundnahrungsmittel. Dass es da jetzt überall die Forderung nach einem Lohnausgleich gibt, halte ich für sehr nachvollziehbar.

hessenschau.de: Sollten die Gewerkschaften nicht dennoch gerade bei Streiks in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge zurückhaltender sein? Immerhin werden große Teile der Bevölkerung ungefragt in den Tarifkonflikt mit hineingezogen.

Birke: Egal, ob jetzt bei der Müllabfuhr oder bei Busfahrerinnen - wenn im öffentlichen Dienst gestreikt wird, ist es immer eine Belastung für die Nutzer:innen. Natürlich gibt es da auch Frustration und echte Probleme. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zum Beispiel sind ja oft gezwungen, den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen. Pendler:innen haben auch Probleme. Man muss aber sehen, dass es da einen Zusammenhang mit den allgemeinen Versorgungsproblemen gibt.

Wir haben zum Beispiel in der Stadt, aus der ich komme, Göttingen, schon Einschränkungen im Fahrplan gehabt, weil es Personalmangel gab. Es fallen oft Busse aus. Der infrastrukturelle Zustand ist einfach unbefriedigend. Verdi verweist auf einen Arbeitskräftemangel von 80.000 - bei 90.000 Beschäftigten. Laut Verdi müsste also fast noch mal die Zahl der aktuell Beschäftigten eingestellt werden, um den ÖPNV auf einen modernen Stand zu bringen. Das sind Punkte, die alltäglich eine Rolle spielen, die jetzt natürlich durch die Streiks noch mehr in den Fokus rücken.

hessenschau.de: Können Sie denn trotzdem nachvollziehen, dass die ständigen Streiks bei zahlreichen Menschen Frust auslösen?

Birke: Ich kann das durchaus nachvollziehen. Ich persönlich nehme aber lieber, zwei, drei oder vier Tage Streik in Kauf, als einen übermüdeten Busfahrer, der mit mir gegen eine Leitplanke oder eine Litfaßassäule fährt.

Zitat
„Mann muss betonen, dass es in bestimmten Bereichen gar nicht geht, Streiks zu führen, ohne dass auch diese politische Dimension in den Blick genommen wird.“ Peter Birke, Streikforscher. Peter Birke, Streikforscher.
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hessenschau.de: Haben sie denn das Gefühl, dass in der Bevölkerung die Forderungen der Gewerkschaften auf Verständnis stoßen?

Birke: Verständnis ist ja erstmal sehr schwer zu messen. Das hat ja auch immer eine gewisse Ambivalenz. Einerseits gibt es diese allgemeine Unzufriedenheit mit der systemwichtigen Infrastruktur in der Bundesrepublik, sei es Altenpflege, Schulen oder öffentlicher Nahverkehr.

Gleichzeitig gibt es aber auch Unmut über diese Streiks. Dabei muss man sehen: Eigentlich gibt es ein gemeinsames Interesse an der nachhaltigen Verbesserung der Situation in diesen Bereichen. Und es ist vor diesem Hintergrund eigentlich unverständlich, dass es so eine starke Verweigerungshaltung gibt in Bezug auf Verhandlungen und zwar gerade, was Arbeitsbedingungen betrifft.

Es geht ja in den dezentralen Verhandlungen im ÖPNV, aber auch bei der GDL, unter anderem um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden, insbesondere für Schichtarbeiter:innen. Und die kommunalen und auf Landesebene organisierten Arbeitgeber bewegen sich da im Moment ebenso wenig wie die Deutsche Bahn. Das muss man auch kritisieren, wenn man jetzt beklagt, dass Busse und Straßenbahnen nicht fahren.

hessenschau: Kritiker sprechen schon davon, dass die Gewerkschaften mit ihren Forderungen an Bund, Länder und Kommunen politische Streiks führen.

Birke: In Deutschland herrscht da tatsächlich ein vergleichsweise restriktives Streikrecht. Aber man muss ja bedenken, dass es in bestimmten Bereichen gar nicht geht, Streiks zu führen, ohne dass politische Dimensionen in den Blick genommen werden. Ich benutze mal ein Bild. Sie haben ein marodes Gebäude und da beschwert sich der oder die Hausmeisterin darüber, dass überall die Mauern und die Leitungen marode sind und sagt dann: "Ich möchte hier nicht arbeiten, das ist mir zu gefährlich". Dann sagt die Politik: "Du darfst zwar streiken, wenn Du mehr Geld haben willst. Aber Du darfst dabei nicht über den Zustand des Hauses reden, denn darüber bestimme ich."

So ähnlich ist es meines Erachtens im öffentlichen Nahverkehr. Es gab ja eine jahrelange Vernachlässigung dieses Sektors, obwohl wir in der Bundesrepublik über Klimawandel, Klimapolitik, CO2-Sparen sprechen. Da finde ich es total nachvollziehbar, dass die Menschen politische Forderungen erheben, weil ja ein Ausbau des ÖPNV sowohl die Arbeitsbedingungen verbessern als auch zum Klimaschutz beitragen könnte. Um im Bild zu bleiben: Der oder die Hausmeisterin fordert die grundlegende Renovierung des Hauses, damit darin sicher gelebt und gearbeitet werden kann.

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