Das Orkantief zieht über einen Kirchturm in Nordrhein-Westfalen. (dpa)

Die Kirchenaustritte nehmen weiter zu. Sinkt die Zahl der Mitglieder, sinken die Einnahmen aus der Kirchensteuer. Ein Interview mit den Sprechern des Bistums Limburg und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau darüber, wo man künftig sparen will - und was die Kirchen für unverzichtbar halten.

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Katholische Kirche verzeichnet Austrittsrekord

hs
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Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt nicht nur, sie befindet sich regelrecht im Sturzflug. Austrittsrekord jagt Austrittsrekord. Wo die katholische Kirche im Umgang mit Missbrauchsfällen oft kein gutes Bild abgab, kommt ein allgemeiner Bedeutungsschwund dazu - auch bei der evangelischen Kirche.

Viele Austritte werden finanziell begründet und auch Sterbefälle machen keinen unerheblichen Teil des Mitgliederrückgangs aus.

Aber welche Konsequenzen hat es, wenn jedes Jahr immer mehr Menschen einer Organisation den Rücken kehren, die sich für Schwache einsetzen will?

Im Interview blicken der Sprecher des katholischen Bistums Limburg, Stephan Schnelle, und der Sprecher der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Rahn, auf die Zukunft der Kirchen.

hessenschau.de: Herr Schnelle, Herr Rahn, wie werden die hessischen Kirchen in fünf Jahren aussehen?

Schnelle: Die hohen Austrittszahlen werden sich fortsetzen, und es wird eine Ressourcenverschiebung innerhalb der Kirchen stattfinden. Wir werden in fünf oder zehn Jahren deutlich weniger und deutlich kleiner sein, aber es wird uns nach wie vor geben.

Rahn: In fünf Jahren wird noch vieles wiedererkennbar sein, aber wie es in 15 Jahren aussieht, traut sich noch niemand zu denken. Ob es die Kirchensteuer bis dahin noch gibt oder ob, wie in Italien, eine Kultursteuer eingeführt wird - das ist alles eine große Blackbox.

Auch werden wir uns fragen, ob zwingend die Kirchen selbst der Mittelpunkt der Gemeinde sein müssen oder ob man eine Gemeinde nicht auch - beispielsweise - aus einer Kindertagesstätte heraus aufbauen kann. Das benötigt aber noch viel Fantasie. Bis 2030 können wir sicher sein, dass es die Kirche noch gibt, so wie wir sie kennen.

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hessenschau.de: Die katholischen Kirchen in Hessen haben 49.000 Mitglieder verloren, die EKHN rund 30.000 Mitglieder - beides inklusive der Sterbefälle. Was bedeutet das für die Kirchen?

Schnelle: Die Zahlen sind eine Realität und wir dürfen davor die Augen nicht verschließen. Wir versuchen eine Kultur zu schaffen, die Antworten auf diese Veränderung findet. Man könnte denken, wir fragen uns lediglich, was aus uns wird - aus unseren Seelsorgern, aus den Immobilien.

Aber das ist für uns der falsche Ansatz, denn wir wollen wissen: Was brauchen die Menschen von uns als Kirche? Wozu sind wir da? Aus den Antworten müssen wir Strategien entwickeln.

Rahn: Das ist krass und wirft unsere Planung eigentlich über den Haufen. Wir haben bisher mit einem Rückgang von zwei Prozent gerechnet. Darauf haben wir unsere Sparmaßnahmen ausgelegt. Ab 2030 muss unser gesamter Haushalt um 140 Millionen Euro heruntergedrückt werden, sonst schreiben wir rote Zahlen.

Ein Mann im Anzug schaut in die Kamera - auf seinem Jacket trägt er ein Facettenkreuz, das Symbol der Evangelischen Kirche.

hessenschau.de: Weniger Mitglieder heißt weniger Geld. Die EKHN hat mit ihrem Programm ekhn2030 ein Reformprojekt vorgelegt. Auch die katholische Kirche will sich verändern. Was sieht das alles vor?

Schnelle: Im Bistum Limburg sind wir in einem Transformationsprozess. Das ist nicht primär ein Sparprozess, sondern eine inhaltliche Ausrichtung und es geht um Kulturveränderung.

Wir werden uns aber auch auf Schwerpunkte konzentrieren und aus anderen Bereichen zurückziehen müssen. Welche das sind, ist aber noch nicht entschieden. In den vergangenen Jahren sind unsere Einsatzfelder permanent mehr geworden. Dafür wird uns in Zukunft das Geld und das Personal fehlen.

Rahn: Einer der größten Bausteine ist, dass wir die Gemeinden über den eigenen Kirchturm hinaus und größer denken. Gemeinden sollen sich Häuser, Pfarrpersonal, Kirchenmusiker teilen können. Die Verwaltung soll digitaler, schlanker und günstiger werden. Immobilien stehen auf dem Prüfstand.

Wir versuchen uns von Groschengräbern in Beton zu trennen und lieber in die Entwicklung von Menschen zu investieren. Zuletzt mussten wir deshalb schweren Herzens die Jugendburg Hohensolms (Lahn-Dill) und die Jugendbildungsstätte in Höchst (Odenwald) abstoßen.

hessenschau.de: Herr Rahn, heißt das, es gibt bald nur noch eine Jugendgruppe oder einen Seniorenkreis pro Stadt, und nur noch da gibt es Kaffee und Kuchen?

Rahn: Genau das heißt es - oder wir gehen noch weiter und schließen uns mit Kommunen zusammen, die ebenfalls Geldprobleme haben, nutzen Dorfgemeinschaftshäuser auch als Gemeindehaus.

Allerdings ist mir wichtig zu betonen: Wir wollen mehr einsparen als wir müssten, um Luft für Experimente zu haben. Die EKHN ist etwa die einzige Landeskirche, die einen Jugendkirchentag anbietet.

hessenschau.de: In der evangelischen Kirche entscheidet das Kirchenparlament, die Synode, über die Finanzen. In der katholischen Kirche ist es ein Finanzbeirat. Können Sie beide dennoch schon absehen, an welchen Stellen es besonders eng wird?

Rahn: Was im Herbst ansteht, sind große Entscheidungen, die auch weh tun. Das betrifft unter anderem Pfarrstellen im Seelsorgedienst, die gekürzt werden oder wegfallen. Das betrifft Kürzungen im KiTa-Bereich, denn 50 Millionen Euro von unseren 700 Millionen Euro Gesamtbudget fließt dahin. Hier geht es darum den Trägeranteil der EKHN zu kürzen.

Schnelle: Es gibt noch keine Entscheidung, insofern wäre das Spekulation. Aber den Automatismus, dass beispielsweise Stellen automatisch nachbesetzt werden, wenn jemand in Rente geht, gibt es nicht mehr.

In den Pfarreien unseres Bistums wird darüber nachgedacht, welche Gebäude wir halten und entwickeln können und welche wir abgeben. Da sprechen wir über Kirchen, Pfarrhäuser, Gemeindezentren und vielleicht auch über die ein oder andere KiTa, die nicht getragen werden kann.

Ein Mann schaut in die Kamera.

hessenschau.de: Was bedeuten die Austritte etwa für soziale Einrichtungen, die Diakonie, die Caritas oder Weser5, eine der wichtigsten Stellen der Obdachlosenhilfe in Frankfurt?

Rahn: Genauso wie die Frage, ob wir alle KiTas behalten können, stellt sich auch die Frage, ob wir Dienstleistungen im sozialen Bereich und in der Diakonie weiter so aufrecht zu erhalten, wie wir das bisher tun - wenn die Austritte nicht zurückgehen.

Auf der Kippe steht noch nichts, aber mittelfristig müssen wir uns fragen, ob wir uns das leisten können, wenn der Staat nicht stärker einspringt.

Schnelle: Die Caritas ist ein starkes Gesicht der Kirche. Aber auch dort wird man schauen müssen, was die Austritte für Auswirkungen auf dieses Engagement haben werden.

Sicherlich versuchen wir erstmal nicht an den Angeboten zu rütteln, die unmittelbar mit Menschen zu tun haben, sondern wir versuchen erst, etwas an Strukturen und Abläufe zu verändern.

hessenschau.de: Und das, obwohl gerade die diakonischen und karitativen Einrichtungen durch große Zuschüsse vom Staat fremdfinanziert sind - also gar nicht so viele Kirchenmittel darin stecken?

Rahn: Ja, aber sie sind inzwischen nicht mehr auskömmlich, besonders bei den Kindertagesstätten. Etwa die Instandhaltung der Gebäude geht vielerorts auf unsere Kappe - das können wir so nicht mehr leisten.

Schnelle: Wir gehen auch auf Kommunen und andere Partner zu, um Probleme zu lösen - etwa was die Finanzierung von KiTas angeht. Das sind harte Verhandlungsprozesse. Andernorts gibt es Träger, die sich ganz rausziehen. Das ist aber nicht die Haltung unseres Bistums. Wir sind ein verlässlicher Partner, auch für die Kommunen.

hessenschau.de: Viele treten ja auch aus, weil ihnen ist die Mitgliedschaft zu teuer ist - sie kostet immerhin neun Prozent der Einkommenssteuer. Haben Sie mal über ein "Kirchen-Abo light" nachgedacht, über etwas günstigeres?

Rahn: Ja, haben wir. Ich kann mir vorstellen, dass solche Modelle gerade bei jungen Erwachsenen und Jugendlichen ausprobiert werden. Statistisch gesehen treten sie aus, wenn sie das erste Mal richtig Geld verdienen - mit Ende 20 - und geschockt sind, wie viel Kirchensteuer sie zahlen. Für diese Leute muss es einen "Einstieg light" geben.

Schnelle: Nein. Ich bin sicher, das Argument des Geldsparens ist nicht immer das Tragendste. Für den Kirchenaustritt gibt es viele Gründe. In den seltensten Fällen ist es das Geld, würde ich mutmaßen.

hessenschau.de: Was ist eigentlich das Kerngeschäft der Kirche - anders gefragt: Was werden Sie nie einsparen?

Schnelle: Die Botschaft eines liebenden Gottes an die Menschheit weitergeben. Das werden wir nie aufgeben. Aber wir werden sicherlich nach neuen Wegen dafür suchen, wie das gelingen kann.

Verkündigung subsumiert auch die Seelsorge, die Arbeit mit Menschen. Und natürlich werden wir auch nicht die Feier der heiligen Eucharistie (das Abendmahl, Anm. d. Red.) einstellen.

Rahn: Glaube und Diakonie gehören zum Kerngeschäft. Erstens die Verkündigung - dass wir in die Welt tragen, wie wichtig es ist, menschlich miteinander umzugehen und füreinander da zu sein. Und daraus ergibt sich der zweite Punkt, nämlich soziale Arbeit zu leisten.

Das Gespräch führte Simon Rustler. Transparenzhinweis: Er war mehrere Jahre im Evangelischen Medienhaus, das zur EKHN gehört, angestellt.

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