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Paukenschlag in Kassel: Die Ex-Mitglieder der documenta-Findungskommission haben die Gründe für ihren Rücktritt erläutert. Und die haben es in sich. Nun werden erste Rufe nach einer Verschiebung der Weltkunstschau laut.

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Weltgrößte Kunstausstellung documenta in Gefahr?

Leiter der documenta beim Interview
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Steht die weltgrößte Kunstschau in Kassel vor dem Aus? Nach dem Rücktritt der verbliebenen vier Mitglieder der Findungskommission für die Leitung der documenta 16 am Donnerstag haben sie jetzt in einem "Letter of resignation" die Begründung für ihren Rücktritt geliefert.

Die zentrale Aussage des Papiers: Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez halten eine documenta in der aktuellen politischen Meinungslage in Deutschland für unmöglich.

Kunstfreiheit in Deutschland noch gegeben?

Dort heißt es, die Dynamik der letzten Tage habe die Mitglieder daran zweifeln lassen, ob die Kunstfreiheit in Deutschland für kommende Ausgaben der documenta noch gegeben sei. Hintergrund dieser Bedenken sei die Diskreditierung von Ranjit Hoskoté. Diese sei nicht in Frage gestellt worden.

Hoskoté war erst am Montag aus der Findungskommission ausgestiegen. Hintergrund seines Austritts waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen ihn. So soll er 2019 offenbar ein Statement unterzeichnet haben, das die israelfeindliche BDS-Bewegung unterstützt. 

Zitat
„The dynamics of the last few days, with their unchallenged media and public discrediting of our colleague Ranjit Hoskote, which forced him to resign from the Finding Committee, make us very doubtful if this prerequisite for any coming edition of documenta is currently given in Germany.“ Aus dem "Letter of resignation" Aus dem "Letter of resignation"
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Vor diesem Hintergrund findet am Wochenende das documenta Symposium statt. Es steht unter der Überschrift "Die documenta fifteen als Zäsur? Kunst, Politik, Öffentlichkeit". Das Symposium kann man im Internet live verfolgen.

In der Eröffnungsveranstaltung am Freitagabend warnte die Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) vor einem "wachsenden intellektuellen Antisemitismus". Dieser stelle den Terror der Hamas als legitime Antwort auf die Politik Israels dar. Es dürfe nicht sein, dass Juden in aller Welt jeden Tag um ihr Leben fürchten müssten.

Mit Blick auf die Zukunft der documenta sprach sich die Ministerin für eine gründliche Aufarbeitung des Eklats der vergangenen Schau aus. "Der Schatten der documenta 15 darf nicht auf der documenta 16 liegen", sagte sie.

"Weder die Welt, noch die documenta steht vor dem Untergang"

Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne) sagte am Freitagabend, ein Neubeginn des Findungsprozesses sei erst dann sinnvoll, "wenn die documenta eine klare Struktur und Haltung darüber entwickelt, unter welchen Rahmenbedingungen die künftigen Ausstellungen stattfinden".

Die Zukunft der Weltkunstschau stehe nicht infrage, betonte Schoeller. "Die documenta löst die Probleme der Welt nicht, sie zeigt sie nur auf. Weder die Welt, noch die documenta steht vor dem Untergang."

Rückendeckung für documenta und Geschäftsführer Hoffmann

Vorab hatten sich die Stadt Kassel und das Land Hessen als Gesellschafter gegenüber dem hr in einem schriftlichen Statement hinter die documenta und die Museum Fridericianum gGmbH sowie ihren Geschäftsführer Andreas Hoffmann gestellt.

Man unterstütze die documenta gGmBH und Hoffmann "voll und ganz in ihrer klaren Haltung" und stehe hinter den Anstrengungen, "das durch die antisemitischen Vorfälle auf der documenta 15 verloren gegangene Vertrauen wieder aufzubauen". Aus Kreisen des Kasseler Rathauses war aber auch zu hören, man sehe die Zukunft der documenta massiv gefährdet.

Geschäftsführer Hoffmann: Bekenntnis zum Standort Kassel

documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann zeigte im Gespräch mit dem hr Verständnis für die Entscheidung der Mitglieder der Findungskommission. Es gehe jetzt darum, den Prozess der Aufarbeitung der documenta fifteen weiterzuführen.

Hoffmann bekannte sich klar zum Standort Kassel. Es habe nie zur Debatte gestanden, dass die documenta hier nicht mehr stattfinden werde. Zu einer Verschiebung, weil nun eine neue Kommission gefunden werden muss, wollte er sich nicht äußern. Derzeit stehe der Termin ab Juni 2027 noch, so Hoffmann.

Claudia Roth fordert glaubwürdigen Neustart

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) äußerte sich auf hr-Anfrage in einem schriftlichen Statement zum Rücktritt der Findungskommission. Sie drängt auf einen glaubwürdigen Neustart der Kunstausstellung. Dafür müsse die documenta auch mit Blick auf ihre Organisationsstrukturen neu aufgestellt werden.

Die Entscheidung der Findungskommission könne sie nachvollziehen, sagte Roth: "Ohne vernünftige Strukturen und klare Verantwortungsketten war deren schwierige Aufgabe kaum zu bewältigen." Zum Hauptvorwurf der Findungskommission äußerte sich Roth nicht.

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Zukunft der Weltkunstschau documenta ungewiss

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Der Bund sei bereit, an einer Neuaufstellung mitzuarbeiten. Sie werde in den kommenden Tagen mit Oberbürgermeister Schoeller sprechen. Sobald die Regierungsbildung in Hessen abgeschlossen sei, wolle sie auch dort das Gespräch suchen.

Roth hob erneut die Relevanz der documenta in den Fokus. Sie sei "eine der wichtigsten Ausstellungen für Gegenwartskunst, die auch ein Schaufenster für Deutschland in der Welt ist", so Roth. Sie warb dafür, sich gemeinsam dafür einzusetzen, dass die documenta 2027 ein voller Erfolg werde. "Wir brauchen die Kunst mehr denn je, wir brauchen geschützte Räume für die Kunst, wir brauchen ihre Debatten und Impulse für eine offene Gesellschaft."

Israelfeindlichkeit und Antisemitismus kein "Ausdruck von Freiheit"

Ob der Zeitplan nach dem Rücktritt der Findungskommission eingehalten werden kann - das besorgt Nicole Deitelhoff. Die Vorsitzende des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta hat Verständnis für das, was die vier Mitglieder in ihrer Stellungnahme formuliert haben - mit Einschränkungen.

Ihr Verständnis ende dort, wo im Schreiben suggeriert werde, dass man in Deutschland nicht mehr frei über Kunst und das Verhältnis zu Israel sprechen könne, sagte Deitelhoff. Das sei durchaus möglich, außer man verstehe "Israelfeindlichkeit und Antisemitismus als Ausdruck von Freiheit".

"Erleben seit dem 7. Oktober polarisierende Debatte"

"Wir erleben nach dem 7. Oktober eine unglaublich polarisierende Debatte, wo es sehr schwierig ist, zwischen dem Grauen des 7. Oktober und der Verurteilung der Hamas für den Angriff auf israelische Zivilisten und den zum Teil problematischen israelischen Angriffen in Gaza überhaupt noch differenziert miteinander zu sprechen", sagte sie dem hr.

Die ehemaligen Mitglieder der Findungskommission der documenta 16: Gong Yan, Bracha L. Ettinger, Kathrin Rhomberg, Ranjit Hoskoté, Simon Njami und María Inés Rodríguez (v.l.n.r.)

Man werde direkt in eines der beiden Lager gesteckt, findet Deitelhoff: "Entweder man ist für Israel und für Jüdinnen und Juden oder man ist gegen sie, man ist antisemitisch." Diese Reflexe in der Debatte seien problematisch.

Ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels beziehungsweise ein Verbot von Antisemitismus sei keine politische Vorgabe, sondern "Grundlage für eine freie Debatte unter Gleichen". Es sei kein Problem für die Kunstfreiheit, sich diesem Bekenntnis anzuschließen, sagte Deitelhoff weiter.

"Grundsätzliche Entscheidungen nötig"

Im Kulturbetrieb gebe es eine starke pro-palästinensische, israelfeindliche Haltung, sagte Deitelhoff. Problematisch sei, wenn von dieser Seite der Eindruck erweckt werde, die Kunstfreiheit sei bedroht. "Die Antwort kann nicht sein, dass wir ein bisschen Antisemitismus zulassen."

Dass die Findungskommission Deutschland als Standort für die documenta insgesamt in Frage stelle, bezweifelte sie. Vielmehr sei ihr Eindruck, dass sich die Stellungnahme vor allem auf den derzeitigen Zeitpunkt beziehe.

Die documenta müsse jetzt "grundsätzliche Entscheidungen treffen". Sie solle darüber nachdenken, die nächste Schau um mindestens ein Jahr zu verschieben und auch neue Wege ersinnen, wie man eine künstlerische Leitung findet.

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