Alte Strafen neu bewerten Hessische Justiz muss wegen Cannabis-Gesetz über 190.000 Altfälle überprüfen
Die geplante Legalisierung von Cannabis beschert den hessischen Staatsanwaltschaften schon jetzt jede Menge Extra-Arbeit. Denn das Cannabis-Gesetz soll in bestimmten Fällen auch rückwirkend gelten.
Das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis stellt die Staatsanwaltschaften in Hessen vor große Herausforderungen. Sie müssen mehr als 190.000 eigentlich schon abgeschlossene Altfälle erneut unter die Lupe nehmen, wie Georg Ungefuk von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt auf hr-Anfrage mitteilte.
"Angesichts der Vielzahl der Akten ist das ein erheblichber Aufwand", so Oberstaatsanwalt Ungefuk. Eine Herausforderung, nicht nur für Hessen.
Strafen könnten rückwirkend gemildert werden
Ursache ist der Gesetzentwurf der Ampel-Bundesregierung. Dieser sieht vor, dass rechtskräftige und noch nicht vollständig vollstreckte Strafen für Delikte, die voraussichtlich vom 1. April an nicht mehr strafbar sind, erlassen werden.
Bis das Cannabis-Gesetz in Kraft tritt, muss die Staatsanwaltschaft also zahlreiche Altfälle überprüfen, die nach dem neuen Recht nicht zu Strafen hätten führen dürfen.
Enormer Zeitdruck durch fehlende Übergangsregelung
Die entsprechenden Prüfungen haben bei den Staatsanwaltschaften in Hessen bereits Anfang November letzten Jahres begonnen.
Trotz des enormen Zeitdrucks ist Oberstaatsanwalt Ungefuk zuversichtlich, den Stichtag einhalten zu können, damit niemand, der unter den Straferlass fällt, fälschlicherweise in Haft ist. Aber: "Wir arbeiten ohne eine Übergangsregelung, die es normalerweise gibt – das ist etwas schwierig."
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Zu konkreten Folgen, die der Aufwand auf andere anstehende Verfahren haben könnte, wollte sich Ungefuk nicht äußern. Momentan habe die rechtzeitige Bearbeitung der Fälle in Zusammenhang mit dem Cannabis-Gesetz Priorität.
Rückwirkende Straffreiheit stellt neue Herausforderungen
Bei den bislang über 190.000 identifizierten Strafverfahren (Stand 13.03.2024) in Hessen handelt es sich um Fälle, bei denen die verhängte Geldstrafe oder Gesamtgeldstrafe noch nicht bezahlt wurde. Oder bei denen eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe noch oder nicht vollständig verbüßt wurde. Oder um Verfahren, die zurzeit zur Bewährung ausgesetzt sind.
Die Fälle müssen zum einem auf Anhaltspunkte für die rückwirkende Straffreiheit gesichtet werden. Zum Beispiel, wenn bei dem Verfahren der Besitz einer geringen Menge Cannabis eine Rolle gespielt hat, sie laut neuem Gesetz aber im Rahmen des Erlaubten liegt.
Relevante Fälle oft erst auf den zweiten Blick erkennbar
Zum anderen wird aber auch auf ganz neue Aspekte geschaut. Zum Beispiel, wenn Cannabis-Konsum in Sichtweite einer Schule stattgefunden hat. Das war vorher keine Ordnungswidrigkeit, wäre es nach dem neuen Gesetz aber schon.
Es müssen aber auch die Fälle gesichtet werden, die auf den ersten Blick gar nichts mit Drogenkonsum zu tun haben, wie zum Beispiel Wirtschaftsstrafverfahren oder Gewaltdelikte. "Wenn etwa im Verlauf der Ermittlungen, zum Beispiel bei einer Wohnungsdurchsuchung, eine geringe Menge Cannabis bei dem Beschuldigten sichergestellt und er in der Folge auch wegen Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt wurde", erläutert Ungefuk.
Bearbeitung kann sich über Tage strecken
Die entsprechenden Fälle lassen sich nicht einfach automatisiert abrufen, so Ungefuk. Die Akten müssen händisch von dem bestehenden Personal angefordert, eingesehen und überprüft werden.
Eine Überprüfung könne je nach Fall ein paar Minuten, aber auch mehrere Stunden in Anspruch nehmen, so Ungefuk. Oder sich über Tage strecken, wenn noch zusätzliches Aktenmaterial angefordert werden muss.
Kommt die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass die Gesamtstrafe nach neuem Gesetz beeinträchtigt sein könnte, müssen die Fälle wieder zum Gericht.
Großteil der Rauschgiftdelikte hat mit Cannabis zu tun
Ob mit dem Cannabis-Gesetz in Zukunft weniger Arbeit auf die Justiz zukommt, ist noch umstritten. In Hessen machten nach Angaben des Innenministeriums Cannabis-Delikte in den vergangenen Jahren einen Großteil aller Rauschgiftdelikte aus. In der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden demnach 2022 hessenweit mehr als 15.028 Straftaten im Zusammenhang mit der Droge registriert.
Während Befürworter der Legalisierung argumentieren, dass ein Großteil dieser Flut an Verfahren wegfallen könnte, hatte in der Vergangenheit auch der Deutsche Richterbund weitere Belastungen im Falle einer Legalisierung von Cannabis befürchtet, etwa hohen behördlichen Kontrollaufwand. Cannabis-Clubs begrüßen die Neuregelung.
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 14.03.2024, 19.30 Uhr
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