Babyboomer vor der Rente In diesen Landkreisen gibt es bald noch weniger Ärzte

Die Uhr tickt: Wenn die Generation der Babyboomer in Ruhestand geht, wird es Experten zufolge Engpässe in der medizinischen Versorgung geben. Was heißt das für die Patientensicherheit? Wir zeigen, welche Landkreise besonders betroffen sind.

Ein Stethoskop liegt auf einem Glastisch in einer Praxis
Ärztemangel auf dem Land: Die Lage spitzt sich vor allem in nordhessischen Landkreisen zu Bild © picture-alliance/dpa

In vielen ländlichen Regionen droht der Ärztemangel zu einer ernsten Herausforderung zu werden. Der Grund: Die Generation der Babyboomer scheidet sukzessive aus.

Die Generation der zwischen 1945 und 1965 geborenen Menschen wird als "Babyboomer" bezeichnet. Der Name geht zurück auf die erhöhte Geburtenrate nach Kriegsende. Der größte Babyboomer-Jahrgang 1964 wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Viele erfahrene Arbeitskräfte gehen derzeit in den Ruhestand, die Anzahl der jungen Fachkräfte sinkt. Die demografische Welle erreicht Ende der 2020er-Jahre ihren Höhepunkt.

Weitere Informationen bei der Bundeszentrale für politische Bildung oder dem Statistischen Bundesamt.

Waldeck-Frankenberg trifft es besonders hart. Mit 26,9 Prozent der über 60-Jährigen liegt der nordhessische Landkreis über dem hessenweiten Durchschnitt. Das geht aus einer SWR-Datenauswertung hervor.

Mehr als jeder Vierte wird hier in den kommenden Jahren in Rente gehen. Die Datenanalyse zeigt, dass jeder fünfte Arzt oder jede fünfte Ärztin auf absehbare Zeit die Praxis aufgeben wird.

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Aber auch andere Landkreise sind betroffen. So lag der Anteil der Ü60-Mediziner im vergangenen Jahr im Kreis Kassel, im Schwalm-Eder-Kreis, im Werra-Meißner-Kreis und im Kreis Offenbach bei mehr als 20 Prozent.

KVH: Politik muss Rahmenbedingungen schaffen

Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) weiß um die zusätzlichen Herausforderungen in der ärztlichen Versorgung - vor allem in den ländlichen Gebieten. Sie ist für die ärztliche Versorgung in Hessen zuständig.

Man unternehme seit vielen Jahren verschiedene Maßnahmen, um dem Ärztemangel zu begegnen, so ein Sprecher der KVH. Dennoch erwarte man eine Verschärfung der Situation, wenn ältere Ärztinnen und Ärzte altersbedingt ausscheiden.

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Bild © picture-alliance/dpa| zur Audio-Einzelseite
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Was tun? Die KVH sieht die Politik in der Pflicht. Diese müsse infrastrukturelle Rahmenbedingungen in den weniger gut versorgten Regionen schaffen. Dabei gehe es etwa um Kinderbetreuung, Schulen, funktionierendes Internet, den ÖPNV und kulturelle Angebote sowie Jobmöglichkeiten für Lebenspartnerinnen und Lebenspartner.

Eigentlich wollte die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ein Gesetz zur Entlastung von Hausarztpraxen beschließen - nach dem Ampel-Aus steht das in den Sternen.

Zuletzt warnte der Hausärzteverband Hessen vor einem Desaster in der Gesundheitspolitik und forderte ein "Programm zur Rettung hausärztlicher Praxen".

Ärztliche Versorgung mit Lücken

Bereits heute offenbart ein Blick in die Karte zur Hausärztlichen Versorgung in den hessischen Landkreisen nicht überall eine 100-prozentige Abdeckung. Vielerorts sind Kassensitze frei.

Ein Kassensitz ist die Zulassung eines Arztes, gesetzlich Versicherte im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu behandeln und dafür von den Krankenkassen vergütet zu werden. Er ist an eine konkrete Praxisadresse gebunden und wird von der KV vergeben.

Und auch bei den Fachärzten gibt es Lücken, wie eine Karte mit den verschiedenen Fachrichtungen zeigt.

Das hessische Gesundheitsministerium hat die Herausforderung für die kommende Jahre nach eigenen Angaben erkannt - und sieht sich als Partner der KV Hessen. 

Diese verfüge über zahlreiche unterschiedliche Unterstützungsmaßnahmen, mit "deren Hilfe die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung gewährleistet werden soll", sagte eine Ministeriumssprecherin dem hr.

Gleich viel Ärzte, weniger Stunden?

Trotz einiger Maßnahmen schlägt die Landesärztekammer Hessen (LÄKH) Alarm. Sie sieht durch den wachsenden Ärztemangel die Patientensicherheit in Gefahr. Die Engpässe in der ambulanten und auch stationären Versorgung führten zunehmend "zu einer Überlastung beider Säulen des Gesundheitssystems", teilte eine Sprecherin auf hr-Anfrage mit. 

Die Gründe dafür sieht die LÄKH nicht nur im schrittweisen Renteneintritt von Ärztinnen und Ärzten. Vielmehr führten "erschwerte Arbeitsbedingungen" zu Frustration bei jungen Kolleginnen und Kollegen.

Laut Ärztekammer schützen diese nachrückenden Mediziner sich durch weniger Stunden und Teilzeitmodelle vor einer Überlastung. Es fehle nicht an Personal, sondern vielmehr an "ärztlicher (Netto-)Arbeitszeit", so die Sprecherin. 

Die Vertretung von Ärztinnen und Ärzten fordert seit langem mehr Studienplätze und weniger Bürokratie, um mehr Zeit für Patienten freizuschaufeln. 

Warten auf Termine und lange Wege

All das ändert nichts an der sinkenden Versorgung gerade im ländlichen Raum. Die Folgen sind bereits heute spürbar - beispielsweise im Schwalm-Eder-Kreis: Hier müssen Patientinnen und Patienten oft wochenlang auf Termine warten und weite Wege zurücklegen, um eine medizinische Versorgung zu bekommen. 

Hinzu kommt, dass Patienten bei Schließung ihrer Hausarztpraxis kaum in benachbarten Praxen aufgenommen würden, wie ein Sprecher des Landkreises sagte. In einzelnen Praxen bestehe bereits ein Aufnahmestopp.

Erhöhte Belastung für Rettungsdienst befürchtet

Als Folge erwartet der Landkreis ein erhöhtes Patientenaufkommen im Ärztlichen Bereitschaftsdienst und eine zusätzliche Belastung mit "Nicht-Notfällen" in den Notaufnahmen.

Es sei zu befürchten, "dass der Rettungsdienst häufiger gerufen wird, auch in Bagatellfällen", so der Sprecher.

Schon jetzt zu wenig Hausärzte 

Laut KV Hessen sind im Schwalm-Eder-Kreis insgesamt elf Gemeinden ärztlich unterversorgt. Betroffen sind Bad Zwesten, Frielendorf, Gilserberg, Jesberg, Knüllwald, Neuental, Ottrau, Schrecksbach, Schwalmstadt, Willingshausen und Wabern. In den Gemeinden Ottrau und Malsfeld gebe es bereits keinen Hausarzt mehr. 

Mit Borken und Homberg (Efze) sind zwei weitere Städte von einer hausärztlichen Unterversorgung bedroht. Wie ein Sprecher dem hr sagte, liege der Bedarf an Nachbesetzung von hausärztlichen Kassensitzen bei 46,1 Prozent. 

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Nicht nur Fahrer und Fahrerinnen im ÖPNV sowie Ärztinnen und Ärzte werden bald fehlen. Blickt man auf weitere Berufe in Hessen, werden vor allem Taxifahrer (22,9 Prozent), Berufsschullehrerkräfte (20,4 Prozent) und Gebäudetechniker (19,5 Prozent) von der Verrentungswelle betroffen sein.  

Videobeitrag

Welche Branchen besonders nach Arbeitskräften suchen

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Bild © hessenschau.de
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Neben den Hausärzten bestehe bei Kinder- und Hautärzten im Schwalm-Eder-Kreis ein Mangel, künftig rechne man mit weiteren Engpässen Im Bereich der Augen- und Frauenheilkunde, zudem bei der Versorgung durch HNO- und Nervenärzten. 

Der am stärksten von der Babyboomer-Rentenwelle betroffene Kreis, Waldeck-Frankenberg, antwortete auch nach mehrfacher Nachfrage bislang nicht auf unsere Fragen.

Im Werra-Meißner-Kreis erwartet man bis 2030 einen Nachbesetzungsbedarf bei Allgemeinmedizinern von insgesamt 38 Prozent, bei der fachärztlichen Versorgung liege dieser mit 43,3 Prozent sechs Prozent über dem hessischen Durchschnitt. 

Besonders betroffen sei der Bereich Sontra. Hier erwarte man für 2030 einen Nachbesetzungsbedarf von 62,5 Prozent, wie eine Sprecherin des Kreises auf Anfrage mitteilte. Es fehle vor allem an Fachärztinnen und Fachärzten in den Bereichen Urologie, Chirurgie, Dermatologie und Orthopädie.

Verschiedene Programme sollen Hausarztquote steigern

Das Land unterstütze mit verschiedenen Programmen, beispielsweise der Landarztquote, so die Ministeriumssprecherin. Hierbei werden 6,5 Prozent der Medizinstudienplätze für Bewerberinnen und Bewerber reserviert, die sich verpflichten, nach dem Abschluss mindestens zehn Jahre in ländlichen Gebieten zu praktizieren. Weitere 1,3 Prozent der Studienplätze werden für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) bereitgestellt, also für eine Beschäftigung in einem hessischen Gesundheitsamt.

Derzeit studieren laut Sprecherin 203 Menschen im Rahmen der hausärztlichen Quote. Nach Studium und Weiterbildung in den Bereichen Allgemeinmedizin, Innere Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin blieben die jungen Ärztinnen und Ärzte für weitere zehn Jahre in unterversorgten Gebieten.

Zusätzlich werden neu gegründete Hausarztpraxen sowie Praxisgemeinschaften und medizinische Versorgungszentren (MVZ) vom Land bezuschusst. Dazu habe man mit dem Pakt für Gesundheit eine Möglichkeit geschaffen, bereichsübergreifend "über komplexe Gesundheitsthemen zu diskutieren und Strategien zu entwickeln", so die Sprecherin.

Stipendien, Uni-Kooperationen und Newsletter 

Viele Landkreise versuchen mit speziellen Projekten, Anreize für junge Medizinerinnen und Mediziner zu schaffen. So plant der Landkreis Kassel die Wiederauflage eines solchen Programms.

Im Schwalm-Eder-Kreis existiert laut einem Sprecher ein kreiseigenes Stipendienprogramm für Studierende der Humanmedizin. Pro Jahr werden bis zu fünf Stipendien vergeben. Die angehenden Ärzte verpflichten sich nach Studienende, eine fachärztliche Weiterbildung im Kreis zu absolvieren. 

Zusätzlich habe man verschiedene Kooperationen mit der Uni Marburg, zum einen Hausarzt-Praktika in Landarztpraxen, aber auch Exkursionen und Hospitationswochen, so der Kreis-Sprecher. 

Auch der Werra-Meißner-Kreis versucht, mit verschiedenen Nachwuchsprogrammen und Kooperationen, junge Ärztinnen und Ärzte in den Landkreis zu locken.  

Dazu gibt es einen Newsletter, um Kontakt zu jungen Menschen aus dem Landkreis zu halten, die den Kreis für Studium oder Ausbildung im Gesundheitsbereich verlassen haben.

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In Hessen waren vergangenes Jahr 280.000 von insgesamt 2,75 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 60 Jahre und älter - und gehen damit in den nächsten Jahren in Rente. Hessen schneidet im bundesweiten Vergleich verhältnismäßig gut ab. Das Bundesland landet auf Platz 13 bei dem Anteil der über 60-jährigen Beschäftigten. Die höchste Quote hat Sachsen-Anhalt mit 12,6 Prozent, die niedrigste Hamburg mit 9,3 Prozent. Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 10,7 Prozent. Hessen liegt mit 10,2 Prozent knapp darunter. Das heißt: In Hessen war 2023 etwa jeder zehnte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 60 Jahre oder älter.

Weitere Informationen

Die Datengrundlage bilden Zahlen aus der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Mehr Informationen zur Datengrundlage und Methodik gibt's beim SWR.

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