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Film zu Geschichte von Gießener Familienunternehmen

 SA-Männer kleben ein Plakat mit der Aufschrift "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden" an die Schaufensterscheibe eines Geschäfts, das in jüdischem Besitz ist

Gießener Studierende haben sich eines gerne vergessenen Kapitels hessischer Geschichte angenommen: In einer Dokumentation beleuchten sie, wie Familienunternehmen vom Ausverkauf jüdischer Geschäfte in der Nazi-Zeit profitiert haben.

Eine Witwenrente bekommt Arthur Dreyfuß' Witwe Meta erst 1956, nach einem langen Kampf vor Gericht. Der ehemalige Inhaber des Modehauses Salomon in Gießen sei doch "freiwillig aus dem Leben geschieden", heißt es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst von der Entschädigungsbehörde.

Einen Stolperstein, der in Gießen an die Familie erinnert, gibt es bislang trotzdem nicht. Doch auch diese Familie ist ein Opfer der Nationalsozialisten, schließlich auch von Gerichts wegen anerkannt. Die Dokumentation "Das Erbe" zeigt die tragische Geschichte, die zu Arthur Dreyfuß' Suizid führte. Vier Studierende des Masterstudiengangs Fachjournalistik Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) gehen darin der NS-Geschichte von Gießener Familienunternehmen nach.

Umsätze jüdischer Unternehmen brechen ein

Anhand mehrerer akribisch recherchierter Beispiele zeigen die Studierenden, was der mehr oder weniger subtile Terror der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren mit jüdischen Unternehmern macht – schon lange vor den Pogromen im Jahr 1938, gerade in kleineren Orten, wo jeder jeden kennt.

Einer der ersten Fälle so genannter Arisierung in Gießen betrifft die Bottina Schuhgesellschaft, die damals ein Filialnetz in ganz Deutschland hat. 1933, nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, brechen die Umsätze der Gesellschaft wie die vieler jüdischer Unternehmen ein.

Geschäfte unter neuen Namen wieder eröffnet

Im Oktober verkauft die Inhaberfamilie die Gießener Filiale für 91.000 Reichsmark an Edmund Darré, ihren langjährigen Geschäftsführer. Er öffnet das Geschäft kurz danach unter seinem Namen neu.

"Der Beginn des Unternehmens war eigentlich nie Gesprächsthema", erinnert sich der Darrés Enkel, der heutige Geschäftsführer Heinz-Jörg Ebert im hr-Gespräch. Es sei davon die Rede gewesen, die Familie Bottina habe das Unternehmen in den Wirren der aufkommenden Nazi-Zeit verkauft und sei ausgewandert. Ebert hat die Recherche der Studierenden aktiv unterstützt.

Das Gießener Schuhhaus Darré im Jahr 1940.

Das sei hochspannend gewesen, sagt Ebert. Er sei gleichzeitig neugierig und nervös gewesen. Am Ende stand die Erkenntnis, dass es Kaufverträge gebe, die zeigten, dass die Verhandlungen im Fall seines Schuhhauses auf Augenhöhe stattfanden. "Der Punkt Arisierung ist hier ambivalent zu sehen", sagt Ebert. "Und doch ist klar, dass die Eigentümer ohne den Druck der Nazis nie verkauft hätten."

Chance auf "Schnäppchen" genutzt

Verhandlungen auf Augenhöhe – in der Anfangszeit des Nazi-Regimes ist das für Jüdinnen und Juden noch möglich – aber nicht lange. Druck und Terror wachsen, SA-Leute postieren sich vor jüdischen Geschäften und fotografieren Kundinnen und Kunden, man kennt sich. Deutsche, vermeintlich "arische" Unternehmer nutzen ihre Chance auf "Schnäppchen", die Konditionen für jüdische Unternehmer werden immer schlechter. 

Die Umsätze von Arthur Dreyfuß' erfolgreich geführtem Modehaus Salomon etwa brechen um fast 90 Prozent ein. Dreyfuß sieht bald keinen Ausweg und nimmt sich am 9. April 1934 das Leben. 1935 endet die Geschichte des Modehauses Salomon. Es wird aus dem Handelsregister gelöscht.

Hauen und Stechen unter Schuhhändlern

Auch als "arisch" geltende Unternehmer müssen sich von jüdischen Anteilseignern trennen - wie der spätere Kaufhausketten-Besitzer Karl Eduard Kerber. In Anzeigen wirbt er künftig damit, ein rein deutsches Geschäft zu führen.

Auf Edmund Darré wiederum wächst der Druck, keine Schuhe mehr von jüdischen Großhändlern zu verkaufen. Das Denunziantentum, das Hauen und Stechen unter den Gießener Schuhhändlern damals, habe ihm ein neues, rundes Bild von seinem Großvater vermittelt, erzählt Heinz-Jörg Ebert.

Aus Salomon wird Schneberger

Ende der 1930er Jahre kann kaum ein jüdisches Unternehmen sein Geschäft aufrechterhalten. Eigner müssen Lebenswerke weit unter Wert verkaufen. Wer fliehen will, dem bleibt nichts, denn er muss unter anderem eine horrende "Reichsfluchtsteuer" bezahlen. 1941 wird selbst die Ausreise verboten, nun sind die Nazis auf Vernichtung aus.

In Gießen verschwindet vorher schon ein jüdisches Unternehmen nach dem anderen aus dem Stadtbild, um einige Wochen später unter neuem Namen zu eröffnen. Aus dem Modehaus Salomon etwa wird das Modehaus Schneberger.

1936 erfassen die Nazis noch 130 "nicht-arische" Unternehmen in Gießen. Drei Jahre später sind es noch 25, viele Existenzen sind vernichtet, Grundstücke oder Kunstsammlungen verteilt, all das penibel auf so genannten Arisierungslisten dokumentiert. Auch das zeigt der Film "Das Erbe".

"Man könnte in jeder Stadt so eine Doku drehen"

Besonders erschüttert habe ihn die Erkenntnis, dass dieser Ausverkauf so im ganzen Land passiert sei, sagt Max Zimmermann, einer der jungen Filmemacher: "Man könnte über jede Stadt so eine Doku drehen."

Nur die wenigsten überlebenden jüdischen Unternehmer erhalten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Besitz zurück oder eine Entschädigung. Arthur Dreyfuß' Witwe Meta kann immerhin ihr Leben retten. Sie schafft es, aus Deutschland zu fliehen und stirbt 1971 in den USA.

Weitere Informationen

Informationen zum Film

Der Film soll unter anderem in der Jüdischen Gemeinde Gießen gezeigt werden, geplant ist auch eine Kooperation mit dem Lokalfunk des Offenen Kanals dort. Weitere Termine auch in anderen Städten sind in Planung. Hintergründe zu der Dokumentation gibt es auch auf der Seite der Uni Gießen.

Das Schuhhaus Darré hat die Informationen zu seiner Historie überarbeitet, sie sind auf der Webseite des Unternehmens einzusehen.

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Disclaimer: In einer ersten Version des Artikels hieß es, Meta Dreyfuss habe nie eine Entschädigung bekommen. Ein zufälliger Aktenfund hat nach Angaben der Filmemacher*innen ergeben, dass Arthur nach langem Gerichtskampf seiner Witwe 1956 doch als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurde. Wir haben den Artikel entsprechend korrigiert.

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