Ukrainische Lehrerin an hessischer Schule Erst Flucht vor dem Krieg, dann Unterricht

Zahlreiche ukrainische Kinder gehen inzwischen in hessische Schulen, unterrichtet von Lehrkräften, die selbst vor den russischen Angriffen geflohen sind. Eine Lehrerin berichtet vom Schulalltag zwischen Heimatkunde, Deutschunterricht und dem Umgang mit dem Trauma, das alle im Klassenraum vereint.

Frau vor Tafel
Maria Dubyna war schon in der Ukraine Lehrerin Bild © Benjamin Müller
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Sie sprechen heute über Blumen. Maria Dubyna steht vor ihrer Klasse und erklärt, was die gestickten Symbole bedeuten, die die Schülerinnen und Schüler auf der Trachtenbluse sehen, die sie selbst heute trägt - und auf den Bildern aus der Heimat, die sie mitgebracht hat.

"Jedes Symbol steht für etwas", erklärt die Lehrerin: Mohn und Schneeball bedeuten Kraft und Schönheit, Trauben stehen für Freude, Vögel für die Ehe und für Wohlstand. "Und auch Blumenkränze trägt man in der Ukraine bei großen Festen", erklärt Dubyna: an Weihnachten, auf Hochzeiten, am ersten Schultag. "Es gibt ganz strenge Regeln, welche Blume und welches Kraut man verwenden darf."

Blumenkränze, Heimattraditionen, Hochzeitsfeiern. All das, worüber sie redet, scheint unendlich weit weg zu sein von diesem Ort hier: einem Klassenzimmer im Philippinum, einem Weilburger Gymnasium.

199 geflüchtete Lehrkräfte arbeiten an hessischen Schulen

An hessischen Schulen werden inzwischen knapp 15.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine unterrichtet - inzwischen auch von vielen Lehrerinnen und Lehrern, die ebenfalls erst vor Kurzem geflohen sind. Insgesamt wurden laut dem hessischen Kultusministerium 199 Ukrainerinnen und Ukrainer für den Schuldienst eingestellt. Maria Dubyna ist eine davon.

Die meisten ukrainischen Kinder in Hessen werden derzeit in Intensivklassen beschult, in denen es schwerpunktmäßig ums Deutschlernen geht. Als Ergänzungsangebot findet mancherorts auch freiwilliger "UKEA-Unterricht" statt: Sprach- und Kulturvermittlung in ukrainischer Sprache. Das Ziel ist, "eine Brücke zu bauen zur angestrebten Rückkehr", wie das Ministerium mitteilt. Auch ukrainische Schulmaterialien kommen dabei zum Einsatz.

Frau vor Schulklasse
Dubyna unterrichtet Deutsch als Fremdsprache und ukrainische Sprach- und Kulturvermittlung Bild © Benjamin Müller

Lehrerin: "Wir sind nur mit zwei Taschen gekommen"

Die 30-jährige Maria Dubyna war schon vor dem Krieg Lehrerin. Sie stammt aus Tscherkassy, rund 200 Kilometer südöstlich von Kiew. In der Ukraine arbeitete sie als Deutschlehrerin in einem Gymnasium und wirkte auch bei Projekten des Goethe-Instituts mit.

Sie erzählt: Als die ersten Raketen näher kamen, floh sie am 9. März nach Deutschland, gemeinsam mit ihrem neunjährigen Sohn und ihrer dreijährigen Tochter. Ihr Mann blieb in Tscherkassy zurück.

Dubyna hat in Deutschland Verwandte, sie beherrscht die Sprache fließend. "Wir haben es deshalb vergleichsweise einfach gehabt, hier anzukommen", sagt sie. Sie habe sich in Deutschland sehr gut aufgenommen gefühlt. "Wir sind nur mit zwei Taschen gekommen und haben eine große Welle an Hilfsbereitschaft erlebt."

Schulleiter: "Ein Glücksfall für unsere Schule"

Über private Kontakte zu einer ehemaligen Lehrerin lernte Dubyna im Mai dann Stefan Ketter kennen, den Schulleiter des Philippinums. Hier hatte man schon recht schnell nach Kriegsbeginn eine Intensivklasse gestartet, berichtet Ketter. "Uns hat geholfen, dass wir schon lange Russisch als dritte Fremdsprache unterrichten und deshalb einige auch russischsprachige Lehrkräfte im Kollegium haben."

Mann
Schulleiter Stefan Ketter: "Wenn Kinder im Unterricht anfangen zu weinen und Sie die Sprache nicht sprechen, sind Sie hilflos" Bild © Benjamin Müller

Eigentlich soll Unterrichtssprache in den Intensivklassen Deutsch sein, erklärt der Schulleiter. "Aber wenn dann Kinder im Unterricht anfangen zu weinen und man nicht die Sprache spricht - da sind Sie hilflos."  Auch Konflikte würden die Kinder ganz selbstverständlich auf ihrer Muttersprache führen. Ketter meint nun: Maria Dubyna sei mit ihrer Erfahrung als Lehrerin und ihren guten Deutschkenntnissen ein Glücksfall für die Schule und für die Kinder, die sie unterrichtet. Auch für das Kollegium sei sie eine Bereicherung.

"Wir machen keine Pläne mehr"

"Am Anfang haben wir noch gedacht: Wir bleiben nur ein paar Wochen in Deutschland", berichtet Dubnya. Jetzt ist über ein halbes Jahr vergangen. Der Krieg in der Ukraine dauert an und daran wird sich wohl so bald nichts ändern - und in Weilburg hat inzwischen ein neues Schuljahr begonnen.

Maria Dubyna ist dankbar für die Arbeitsstelle, sie will sie gewissenhaft erledigen und damit auch zeigen: Auf ukrainische Arbeitskräfte ist Verlass, wie sie sagt. Trotzdem denken immer mehr Geflüchtete inzwischen über eine Rückkehr nach. Auch Dubyna kann nicht sagen, wie ihre Zukunft aussieht - und wo sie stattfinden wird. "Meine Kinder haben große Sehnsucht nach ihrem Vater", erzählt sie. "Wir telefonieren jeden Tag miteinander." Im Sommer seien sie sogar ganz spontan in die Ukraine gefahren, um ihren Mann noch mal zu sehen, bevor er an die Front muss. Er rechne derzeit jeden Moment mit der Einberufung.

"Es ist uns schwer gefallen, wieder zurück nach Deutschland zu gehen", berichtet die Lehrerin. Aber jede Nacht habe es Luftalarm gegeben, die Kinder hätten Angst gehabt und wieder nach Deutschland gewollt. "Noch steht unser Haus", sagt sie. "Aber wir wissen nicht, ob das in einem Monat noch so ist." Zukunftspläne mache die Familie derzeit keine mehr. "Das ist Krieg."

Ein bisschen Heimatgefühle vermitteln

Im Unterricht in Weilburg liest die Lehrerin nun mit ihren Schülern ukrainische Literatur, sie spricht über die Kultur und Sprache und versucht, ein bisschen Heimatgefühle zu vermitteln. "Mein erstes Ziel ist, dass die Kinder ihre eigene Sprache nicht vergessen und sie, wenn sie zurück nach Hause gehen, wieder leichter in den Schulalltag zurückkommen." Und: Manchmal hört die Lehrerin den Kindern auch einfach nur zu.

Ausgeschnittene Hände mit Sätzen drauf
Die Schüler verarbeiten auch gemeinsam, was in der Ukraine passiert Bild © Benjamin Müller

"Am Anfang hatten sie Angst, etwas zu erzählen", sagt Dubyna. Auch sie selbst habe die Diskussion über den Krieg nicht noch anstacheln wollen. Aber irgendwann habe sie gemerkt: Die Schüler wollen reden - über die Flucht oder über ihre Häuser oder Wohnungen in Charkiw, die jetzt zerstört sind. "Kinder dürfen so was nicht erleben: vor Raketen fliehen und im Keller sitzen", sagt die Lehrerin. "Und wenn ein Kind ein volles Herz hat und davon erzählen will, dann gebe ich auch die Zeit dafür." Das sei ihr dann wichtiger als der Unterricht.

Weitere Informationen

Sendung: hr4, die Hessenschau für Mittelhessen, 27.9.2022, 15.30

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Quelle: hessenschau.de