Eine Mutter und ein Baby blicken aus einem Fenster.

Seit vergangenem Sommer registrieren Jugendämter in Hessen einen signifikanten Anstieg von Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen. Mittlerweile sind die Einrichtungen überfüllt, die Ämter suchen verzweifelt nach freien Plätzen.

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Inobhutnahme in Bensheim komplett belegt

Schild am Eingang der Inobhutnahme-Einrichtung in Bensheim
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Missbrauch in der Familie, Gewalt und Misshandlungen: In der Corona-Pandemie war die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Hessen so hoch wie nie zuvor. Doch auch nach Ende der Corona-Maßnahmen hat sich die Situation nicht entspannt. Ganz im Gegenteil. Die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen ist im vergangenen Jahr vielerorts deutlich gestiegen.

Zahlen für ganz Hessen liegen nach Angaben des Statistischen Landesamts noch nicht vor, einzelne Jugendämter können den Zuwachs allerdings belegen. In Darmstadt etwa hat es 2022 insgesamt 163 Inobhutnahmen gegeben, wie die Stadt dem hr auf Anfrage mitteilte. Das entspricht einem Zuwachs von 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Kreis Darmstadt-Dieburg stieg die Zahl um 22 Prozent auf 226 Inobhutnahmen. Die Stadt Offenbach verzeichnete im vergangenen Jahr sogar einen Anstieg um 44 Prozent von zuvor 109 auf 157 Inobhutnahmen.

Die Zahlen sind noch vorläufig. Doch: "Den generellen Anstieg können wir bestätigen", sagt Petra Dinger, Bereichsleiterin des Fachdiensts Jugend und Familie im Kreis Offenbach. Mit Beginn der Sommerferien hätten die Fälle merklich zugenommen. Hier zählte das Jugendamt im vergangenen Jahr 250 Inobhutnahmen – ein Anstieg um 61 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Nachwirkungen der Pandemie

Die Gründe dafür sieht Dinger in den Nachwirkungen der Pandemie. Finanzielle Belastungen und das Zusammenleben auf engstem Raum hätten viele Familien an ihre Grenzen gebracht. In dieser Zeit sei auch der "institutionelle Blick auf die Kinder" eingeschränkt gewesen, Schulen und Kindergärten seien geschlossen gewesen, viele soziale Einrichtungen hätten – wenn überhaupt – nur eingeschränkt gearbeitet. Jetzt, wo die Kinder und Jugendlichen wieder "sichtbar" seien, kämen die Probleme ans Licht.

Ähnlich schätzt das Lothar Müller-Wimmer ein. Er ist Geschäftsführer des Vereins für Kinderhauserziehung in Bensheim (Bergstraße), der unter anderem eine Inobhutnahme-Einrichtung betreibt. "Corona hat alles so ein bisschen unter dem Deckel gehalten. Schulprobleme oder familiäre Missstände werden jetzt mit Verzögerung erst so richtig sichtbar", sagt er im Gespräch mit dem hr.

Akuter Mangel an Betreuungsplätzen

In seiner Inobhutnahme bekommt Müller-Wimmer die Auswirkungen tagtäglich zu spüren: "Wir sind seit vergangenem Sommer bis auf den letzten Platz belegt“, berichtet er. Von den insgesamt neun Betten in der Einrichtung seien sonst immer zwei bis drei frei, seit einigen Monaten ist das Haus aber voll. Wird einmal eines frei, sei es nach wenigen Tagen bereits wieder belegt.

"Das Telefon steht nicht mehr still. Aktuell haben wir 50 bis 60 Anfragen pro Monat", klagt Andreas Bommel, Teamleiter der Inobhutnahme im Verein für Kinderhauserziehung. Die meisten kämen aus Südhessen, aber auch Jugendämter aus anderen Bundesländern würden sich mittlerweile regelmäßig nach freien Plätzen erkundigen.

Aktuell seien auch Kinder aus Rheinland-Pfalz in der Gruppe untergebracht, auch aus Augsburg und Mannheim habe es schon Anfragen gegeben. Das zeigt: Auch andernorts steigen die Fallzahlen, auch andernorts sind die Plätze knapp. "Wir telefonieren mittlerweile hessenweit", bestätigt Dinger vom Jugend-Dienst im Kreis Offenbach.

Fehlende Plätze auch in Anschlusseinrichtungen

"Teilweise sitzen die Kinder bei den Jugendämtern, die dann verzweifelt versuchen, einen Platz zu bekommen“, erklärt Bommel. Der Anstieg der Fallzahlen mache dabei in aller Deutlichkeit sichtbar, womit das System nicht erst seit vergangenem Jahr zu kämpfen hat. Insgesamt gebe es zu wenig freie Plätze in den zuständigen Einrichtungen, sagt Bommel – nicht nur in Inobhutnahmen. Auch in Anschlusseinrichtungen, wie etwa Wohngruppen, gebe es zu wenig Platz. Das führe dazu, dass Kinder und Jugendliche oft viel länger in der Inobhutnahme bleiben als vorgesehen und somit Plätze blockieren.

Eigentlich stellt die Inobhutnahme nur eine Übergangsmaßnahme dar, dort sollen die Kinder nur wenige Tage oder Wochen bleiben, bis eine Entscheidung gefallen ist, ob sie zurück in die Familien gehen können oder langfristig woanders untergebracht werden müssen, weil weiterhin Gefahr für Leben und Seele besteht. Mittlerweile betrage die Verweildauer laut dem Bensheimer Verein im Schnitt bereits drei bis sechs Monate. Ein Jugendlicher sei sogar bereits seit einem Jahr in der Gruppe, weil es bisher nicht gelungen ist, eine passende Wohngruppe für ihn zu finden.

Fachkräftemangel spürbar

"Viele Einrichtungen haben in letzter Zeit auch aufgrund des Fachkräftemangels schließen müssen", sagt Bommel. Teilweise müssten Kinder sogar in Pensionen untergebracht werden, weil einfach keine Plätze frei sind.

Mehr Inobhutnahmen, zu wenig Plätze, zu wenig Fachpersonal – den Preis für diese Entwicklung müssen am Ende die Kinder und Jugendlichen zahlen, die im Zweifelsfall nicht die Betreuung bekommen, die notwendig wäre, um ihre leibliche und seelische Gesundheit angemessen zu schützen. "Es ist sehr schwierig für die jungen Menschen, in ihrer eh schon angespannten Situation nicht zu wissen, was als nächstes kommt und wann", beschreibt die pädagogische Leiterin der Inobhutnahme, Annegret Niltrop.

Der Verein für Kinderhauserziehung plant deswegen die Errichtung einer neuen Wohngruppe in Heppenheim, in der Kinder auch länger bleiben können. Ein Haus sei bereits gefunden, sagt Geschäftsführer Müller-Wimmer.

Den akuten Mangel an Betreuungsplätzen wird aber auch die neue Einrichtung in Heppenheim nicht beheben. Die Jugendämter und sozialen Einrichtungen versuchen aktuell, die Krise durch Kreativität und Improvisation zu meistern und hoffen auf einen baldigen Rückgang der Fallzahlen. Im Kreis Offenbach registriert Dinger bereits vorsichtig "eine leichte Entspannung". Zumindest so lange, bis eine mögliche nächste Krise kommt.

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Was ist eine Inobhutnahme?

Eine Inobhutnahme ist eine Übergangsmaßnahme. Immer dann, wenn Jugendämter oder etwa die Polizei in Familien eine akute Gefahr für Leib oder Seele von Kindern und Jugendlichen feststellen, werden diese in entsprechenden Einrichtungen untergebracht. Dort werden sie so lang von geschultem Personal betreut, bis das Jugendamt entschieden hat, ob das Kind wieder zurückkehren kann oder langfristig aus der Familie genommen und etwa in einer Pflegefamilie oder einer Wohngruppe untergebracht werden muss.

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Anmerkung: In einer früheren version waren bezüglich der Stadt Offenbach falsche Zahlen zu den Inobhutnahmen enthalten. Die Stadt hat die zunächst falsch übermittelten Angaben im Nachhinein korrigiert.

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