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Drittstaatler aus Ukraine werden benachteiligt

Studierende Ukraine: Dunkelhaarige Frau, von hinten fotografiert

Mit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine kamen auch Studierende aus Drittstaaten nach Hessen. Viele sind hochqualifiziert. Doch Fachkräftemangel hin oder her: Die meisten bekommen kaum eine Chance, ihr Studium fortzusetzen.

Maryam* wollte ein Leben, über das sie selbst bestimmen kann. Ein Leben, in dem sie kein Kopftuch tragen muss. Eines, in dem sie sich ihren Beruf aussuchen kann. In dem sie nicht ihren Mann um Erlaubnis bitten muss, wenn sie reisen möchte.

Doch Maryam wuchs im Iran auf, in einer traditionellen Familie, die ihr ihren Traum vom Medizinstudium nicht ermöglichen konnte und wollte. So beschloss sie, ihr Land auf eigene Kosten zu verlassen. Als Englischlehrerin arbeiten durfte sie, so dass sie sich damit genug Geld zusammensparen konnte. Im August 2019 ging sie in die Ukraine, "wegen der überschaubaren Lebenshaltungskosten", sagt sie.

Medizinstudium mit Unterricht finanziert

Die heute 25-Jährige lernte ein Jahr lang Russisch, außerdem Ukrainisch. Dann begann sie ihr Traumstudium, das sie sich als Englischlehrerin finanzierte. Zu Beginn des Krieges wollte sie noch bleiben: "Ich hatte dort mein Leben aufgebaut. Das war mein Plan A. Einen Plan B, eine Rückkehr in den Iran, gab es nicht." Erst als russische Panzer durch Kiewer Vororte rollten, ließ sie sich von ihrem Lebensgefährten zur Flucht überreden. Zunächst nach Lwiw nahe der polnischen Grenze.

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„Einen Plan B gab es nicht.“ Maryam Maryam
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Als auch hier Bomben fielen, fuhr das Paar über Frankfurt/Oder nach Frankfurt am Main, weil dort ein Cousin ihres Lebensgefährten wohnt. Jetzt sind die beiden in Wettenberg (Gießen) untergebracht und würden gern weiterstudieren oder zumindest arbeiten. Doch anders als Geflüchtete mit ukrainischer Nationalität müssen sie darum kämpfen, überhaupt in Deutschland bleiben zu dürfen.

Rund 2.600 Drittstaatler in Hessen

Maryam und ihr Lebensgefährte sind so genannte Drittstaatler, also Menschen ohne ukrainischen Pass, die dort zum Arbeiten oder Studieren gelebt haben. Rund 2.600 von ihnen sind in Hessen erfasst, wie das Innenministerium auf hr-Anfrage mitteilte (Stand: 11. September).

Diese Geflüchteten ohne ukrainischen Pass durften bis zum 31. August mithilfe einer Übergangsregelung noch ohne Visum und ohne einen Aufenthaltstitel in Deutschland leben. Doch seit dem 1. September gilt für diese Menschen: Wer sich länger als 90 Tage in Deutschland aufgehalten und noch keine Aufenthaltserlaubnis hat, muss ausreisen oder könnte abgeschoben werden.

Deutsch-Intensivkurse nur für Ukrainer

Für eine solche Aufenthaltserlaubnis müsste Maryam zum Beispiel studieren, was sie auch am liebsten täte. Doch dafür müsste sie zum einen einen teuren Intensivkurs zur Studienvorbereitung machen, der aber nur Studierenden mit ukrainischer Nationalität bezahlt wird. Zum anderen müsste sie nachweisen können, dass sie ihr Studium finanzieren kann – durch die Flucht hat sie aber alles verloren, wie sie sagt.

Gute Deutschkenntnisse braucht sie auch, um eine Ausbildungsstelle zu finden – eine weitere Möglichkeit, in Deutschland zu bleiben. Dafür darf sie derzeit immerhin einen stundenweisen Kurs an der Volkshochschule machen. Doch damit könnte bald Schluss sein.

Das Ausländeramt des zuständige Landkreises Gießen hat Maryam nahegelegt, Asyl zu beantragen, wie sie sagt. Doch würde sie das tun, wäre sie bis zum Ende des Verfahrens extrem eingeschränkt, etwa ihr Zugang zu Deutsch- und Integrationskursen. Arbeiten dürfte sie auch nicht, sie müsste zudem in eine Asylunterkunft ziehen. Derzeit darf sie mit ihrem Lebensgefährten in einer Wohnung leben.

Der Landkreis teilte auf Nachfrage mit, eine "direkte Aufforderung" zur Asylantragstellung seitens der Ausländerbehörde gebe es nicht. Würden Belange vorgetragen, die die Anforderungen des Asylgesetztes erfüllten, würden die Personen beraten und zur Asylantragstellung ans Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verwiesen.

Unverständnis über Ungleichbehandlung

Maryam hat viele Fragezeichen, sie hat die deutsche Bürokratie längst kennengelernt. "Ich dachte, ich würde wie ukrainische Geflüchtete behandelt. Ich war regulär als Studentin dort." Und weil sie unmöglich wieder in den Iran kann, hat sie denselben Schutzstatus (siehe Hintergrundinformationen am Ende des Beitrags) beantragt, den ukrainische Geflüchtete ohne Probleme bekommen. Sie musste dafür allerdings ausführlich begründen, warum ihr Herkunftsland für sie nicht dauerhaft sicher ist.

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„Die Bomben haben sich ihre Ziele doch nicht nach Nationalität ausgesucht.“ Maryam Maryam
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"Wenn die Begründung nicht ausreicht, um denselben Status wie ukrainische Geflüchtete zu bekommen, wie soll er dann ausreichen, um Asyl zu bekommen?", fragt sich Jana Hollaender von "Wettenberg hilft". Sie betreut neben Maryam mehrere andere Geflüchtete in einer ähnlich unsicheren Situation. Dass Geflüchtete mit ukrainischem Pass hierzulande bevorzugt behandelt werden, versteht sie nicht. Auch Maryam sagt: "Die Bomben haben sich ihre Ziele doch auch nicht nach Nationalität ausgesucht."

Regelungen funktionieren schlecht

"Ganz verrückt" mache sie, dass die Ausländerbehörden in der Sache offenbar auch nicht einheitlich entscheiden. Ebenfalls aus der Ukraine geflüchtete Bekannte aus dem Iran hätten ohne Probleme eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, eine sogenannte Fiktionsbescheinigung, bekommen, mit der sie arbeiten dürften. Ihr sei das verweigert worden. Das sei nicht rechtens, sagt Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrats.

Er bewertet die Regelungen für Drittstaatsangehörige theoretisch positiv. In der Praxis funktionierten sie aber nicht, schon allein, weil die Ausländerbehörden derzeit völlig überlastet seien und nun noch aufwändige Prüfungen auf sichere Herkunftsländer vornehmen sollten. Dafür sei sonst generell das BAMF zuständig.

Fristverlängerung gefordert

Von viel Verwirrung und unklaren Perspektiven berichten derweil mehrere hessische Flüchtlingsinitiativen auf hr-Anfrage. "Es gibt einige Geflüchtete, die Deutschkurse privat bezahlen konnten und tatsächlich einen Studienplatz ergattert haben, andere wurden direkt zur Ausreise gedrängt, einige ins Asylverfahren, so dass wir Anwälte eingeschaltet haben", sagt etwa Bettina Twrsnick von der Flüchtlingshilfe Mittelhessen.

Der Flüchtlingsrat fordert, Betroffenen generell zunächst eine Fiktionsbescheinigung auszustellen – für einen vorübergehenden, legalen Aufenthalt. Auch weitere Unterstützung wie Einstiegshilfen an den Universitäten und ausreichend Stipendien seien nötig, sagt Geschäftsführer Scherenberg.

"Möchte im Gesundheitsbereich bleiben"

Die angehende Ärztin Maryam will jetzt versuchen, ein Ausbildungsjahr über das Berufsbildungswerk oder eine Ausbildung in der Pflege zu bekommen. "Ich möchte auf jeden Fall im Gesundheitsbereich bleiben."

Doch sie ist zunehmend verzweifelt. In der Ukraine habe sie gearbeitet, alles selbst bezahlt und eine Perspektive auf einen Job in einem Krankenhaus gehabt. Und jetzt in Deutschland? "Ich will doch gar nicht viel", sagt sie. "Ich möchte Schutz, die traumatische Flucht verarbeiten und niemandem auf der Tasche liegen."

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Die Rechtslage

Für Geflüchtete aus Drittstaaten greift nach Angaben des Bundesinnenministeriums bei Anträgen auf eine Aufenthaltserlaubnis wie bei Menschen mit ukrainischem Pass der Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes. Stelle ein Drittstaatler einen solchen Antrag, müsse immer ein Verfahren eingeleitet und eine Fiktionsbescheinigung zumindest für den Zeitraum der Prüfung erteilt werden.

Während Ukrainerinnen und Ukrainer generell zwei Jahre Aufenthaltsgenehmigung samt Arbeitserlaubnis und Recht auf Sozialhilfe bekommen, erhalten Drittstaatler den weiteren Angaben zufolge nur dann eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes, wenn sie sich bei Kriegsbeginn rechtmäßig und nicht nur vorübergehend in der Ukraine aufgehalten haben und wenn sie nicht auf Dauer sicher in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. Wer sicher in die Heimat zurückkehren könne, dürfe zu Studienzwecken nur bleiben, wenn er die Voraussetzungen für eine Zulassung erfülle und "insbesondere der Lebensunterhalt gesichert ist", durch eigene Einkünfte oder eine Finanzierung mit Hilfe von Dritten, zum Beispiel durch eine Verpflichtungserklärung oder ein Stipendium.

Für Menschen, die das nicht können, könne keine generelle Aussage getroffen werden, teilt das hessische Innenministerium auf Nachfrage mit. Eine individuelle Prüfung sei nötig. Und: "Tragen die Personen der Ausländerbehörde aber Belange vor, welche bereits die Anforderungen des Paragraf 13 AsylG erfüllen, sind diese auf eine Asylantragstellung beim BAMF zu verweisen."

Eine unbürokratische Lösung, wie sie Hamburg und Berlin beschlossen haben, lehnt das hessische Innenministerium ab. Beide Stadtstaaten geben allen studierenden Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine bis zu zwölf Monaten Zeit, legal in Deutschland zu bleiben und eventuell die Voraussetzungen für ein Studium oder eine Ausbildung zu erlangen.

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*Maryams richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Da es gravierende Probleme gäbe, wenn ihre Eltern oder andere Verwandte von ihrem westlichen Lebensstil wüssten, haben wir ihren Namen für diesen Beitrag geändert.

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