Ein Kuschel-Hase liegt auf einem gelben Untergrund. Er hat die Augen geschlossen. Neben ihm liegt ein Stethoskop.

In Korbach hat eine Kinderarztpraxis geschlossen - mit fatalen Folgen für die Patienten. Viele Familien stehen jetzt ohne Kinderarzt da. Warum ist das so? Und was wird dagegen getan?

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Suche nach einer Kinderarztpraxis

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Laura Lange ist ratlos. "Wir haben uns anscheinend für die falsche Arztpraxis entschieden", sagt Lange und zuckt mit den Schultern. "Jetzt wissen wir nicht, wohin wir mit Mila gehen könnten, wenn sie krank wird." 

Ihre sieben Wochen alte Tochter war Patientin in der Arztpraxis von Antoaneta Koleva in Korbach (Waldeck-Frankenberg). Diese Praxis hat überraschend am 23. August geschlossen. Die junge Familie aus Twistetal-Berndorf hat das aus der Zeitung erfahren. In Korbach gibt es nun nur noch eine Arztpraxis für Kinder - und die ist überfüllt.  

"Wir finden in der ganzen Region keinen Kinderarzt", ergänzt Vater Nico, in die Kinderkliniken in Kassel oder Marburg brauche die Familie eine Stunde. Dabei sind in Hessen die U-Untersuchungen bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres verpflichtend. Und bei der Anmeldung zum Kindergarten müssen Familien eine ärztliche Untersuchung und eine Impfberatung nachweisen - ohne Kinderarzt wird auch das schwierig.

Kinderarzt-Mangel in Waldeck-Frankenberg

13 Landkreise mit unbesetzten Arztstellen oder Kassensitzen

Familie Lange ist eine von vielen Familien in Hessen, die ohne Kinderarzt dastehen. Aber wie kann das sein? Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH), die die Kassensitze für Kinderärzte vergibt, ist die Versorgungslage im grünen Bereich.

Der Landkreis Waldeck-Frankenberg habe, laut einem schriftlichen Statement der KVH, einen Versorgungsgrad von gut 110 Prozent. Dementsprechend gebe es aufgrund dieser Überversorgung keine freien Sitze für neue Kinderärzte. Aber wie entstehen diese Zahlen, wenn die noch bestehenden Kinderarztpraxen im Landkreis aus allen Nähten platzen? 

Betrachtet man die Ausschreibungen und unbesetzten Stellen der KVH, stellt sich die Lage ernster dar, als in der Bedarfsplanung. In 13 Landkreisen in Hessen sind entweder Arztstellen oder Kassensitze unbesetzt oder ausgeschrieben. 

Karte, die nach Landkreisen geordnet farblich anzeigt, wie die Versorgung in Hessen ist.

  

Umliegende Praxen sind überlastet

Welche Auswirkungen es hat, wenn eine Praxis schließt, spüren meist die umliegenden Praxen. 23 Kilometer entfernt von der ehemaligen Praxis von Koleva steht das Telefon bei der Kinder- und Jugendärztin Cornelia Grünler in Bad Arolsen (Waldeck-Frankenberg) nicht mehr still. 

"Wir mussten leider alle Neuaufnahme-Anfragen ablehnen", erklärt Grünler. "Unsere Belastungsampel steht jetzt schon auf Gelb-Rot." Die Gemeinschaftspraxis der drei Ärztinnen hat bereits 4.000 Babys, Kinder und Jugendliche in ihrer Kartei. Dabei werden es immer mehr Patienten, die aber auch immer mehr Zeit brauchen. 

 

Immer mehr Sozialmedizin, Sprachbarrieren und Bürokratie

Grünler arbeitet seit fast 30 Jahren in der Praxis und beschreibt, wie sich ihre Arbeit verändert hat: "Wir betreiben immer mehr Sozialmedizin: Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Übergewicht und dessen Folgeerkrankungen häufen sich vor allem seit der Corona-Pandemie." 

Für eine gute Versorgung bräuchte es mehr Gesprächszeit mit den einzelnen Patienten - diese ist jedoch knapp. Hinzu kommen Sprachbarrieren von geflüchteten Familien, die mehr Zeit erforderten.

Gleichzeitig stellen die Krankenkassen immer höhere Bürokratie-Anforderungen an die Kinderärztinnen und -ärzte. Selbst wenn die Arbeit an den Patienten gegen 19 Uhr beendet sei, folge noch die Schreibtisch-Arbeit bis in den späten Abend. 

Kinderarzt-Mangel in Waldeck-Frankenberg

Lage erfordert mehr Kinderärzte

Steigende Geburtenraten, immer mehr psycho-somatische Erkrankungen und verunsicherte Eltern. Die Lage erfordert mehr Kinderärzte. Das Gegenteil passiert: Immer mehr Kinderärzte der Babyboomer-Generation gehen in Rente - vor allem auf dem Land und oft ohne Nachfolge.

Der Nachwuchs wird immer weiblicher und könne deshalb nicht konstant in Vollzeit arbeiten. Die Bezahlung hinke laut Grünler im Vergleich zum Krankenhaus hinterher.

Niederlassung streng geregelt

Seit 1993 gilt bundesweit für Ärzte eine Niederlassungssperre in Deutschland, die festlegt wie viele Kinderärzte pro 100.000 Einwohner in einem Landkreis praktizieren dürfen. Wenn der Versorgungsgrad von Kinderärzten 110 Prozent oder mehr beträgt, darf sich kein neuer Kinderarzt im Landkreis niederlassen.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) fordert seit Jahren mehr Geld für zusätzliche Kassensitze. Grünler kritisiert die Bedarfsplanung der KVH ebenfalls. Die Zahlen gingen an der Realität vorbei und seien willkürlich gewählt. 

Nachfolger gesucht

Und selbst wenn ein Kassensitz ausgeschrieben ist, muss dieser erst einmal besetzt werden. Der Fachkräftemangel sei im ländlichen Bereich besonders ausgeprägt. Zudem werde der Beruf nicht attraktiver dadurch, dass man als Arzt auch Unternehmer ist.

Die eigene Praxisniederlassung ist mit hohen Anforderungen des Bundesgesundheitsministeriums verbunden. Die laufenden Kosten als Freiberufler und die Schwierigkeit, Arzthelfer zu finden, schrecken potenzielle Nachfolger oftmals ab.  

So geht es Christoph Heil und Carmen Manus, die gemeinsam in Groß-Zimmern (Darmstadt-Dieburg) eine Praxis betreiben. Beide werden bald 65 Jahre alt und Nachfolger sind nicht in Sicht. Heil vermutet, dass mehr Angestelltenverhältnisse für Ärzte helfen könnten, dass der Beruf attraktiver werde.

 

Kommunen haben keinen Einfluss auf Bedarfsplanung

Landrat Jürgen van der Horst (parteilos) sieht die kritische Unterversorgung in Waldeck-Frankenberg. Die Kommunen hätten allerdings keine Durchsetzungsmöglichkeit und keinen Einfluss auf die Bedarfsplanung der KVH. "Alles, was wir tun können, ist unseren realen Bedarf an die KVH zu kommunizieren und in den Dialog zu treten", erklärt van der Horst. 

Eine Zwischenlösung für Kinder ab drei Jahren sei fast in trockenen Tüchern. Doch eine kinderärztliche Fachkraft fehlt weiter, nach der sucht die Stadt jetzt auf einer Werbeplattform.

Die langfristigen Planungen helfen Familie Lange aus Twistetal-Berndorf im Moment nicht. Nach stundenlangen Telefonaten haben sie für sich eine Zwischenlösung gefunden: Ein Kinderarzt in der Region nimmt sie voraussichtlich auf. Für wie lange ist unklar.

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Förderprogramme für Landärzte

Langfristig soll das Landarztprogramm, der "Hessische Weg", helfen, die Versorgungslage für Kinder und Jugendliche auf dem Land zu verbessern. 2022 starteten die ersten 58 Medizinstudierenden mit ihrem NC-freien Studium. Sie haben sich für zehn Jahre verpflichtet, in einer ländlichen Region in Hessen zu arbeiten. Eine andere Idee der KVH ist "Start gut!". Hier erhalten Ärzte, die auf dem Land die Facharztweiterbildung absolvieren, Zuschüsse. Auch Niederlassungshilfen für Landärzte können bei der KVH beantragt werden. 

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