In Marburg sollen demnächst Berater gegen Rechtsextremismus ausgebildet werden. Es ist der bundesweit erste Studiengang dieser Art. Dabei werden solche Fachkräfte derzeit besonders gebraucht, meint Tina Dürr, die den Studiengang entwickelt.

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Neuer Studiengang: Beratung im Kontext Rechtsextremismus

Die Marburger Erziehungswissenschaftlerin Tina Dürr vor einer Bücherwand
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Es war mal wieder ein Rekordjahr: Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland so viele Straftaten mit politischem Hintergrund wie seit 20 Jahren nicht mehr, hauptsächlich aus rechtsextremen Motiven. Zudem haben in den vergangenen Jahren mehrere rechte Straftaten in Hessen bundesweit für Entsetzen gesorgt, wie etwa der Mord an Walter Lübcke und der Anschlag von Hanau.

Auch im Alltag ist Rassismus ein Thema: Seit Jahren belegen Studien, dass es im deutschen Bildungssystem ungleiche Chancen aufgrund von ethnischer Herkunft gibt. Regelmäßig gibt es zudem Berichte über antisemitische Schmierereien, rassistische Übergriffe oder rechte Bewegungen in Hessen.

Das Demokratiezentrum an der Philipps-Universität Marburg beobachtet diese Entwicklung in Hessen sehr genau und koordiniert ein landesweites Beratungsnetzwerk, das zum Beispiel in Schulen, Vereinen oder Kommunen Präventionsmaßnahmen durchführt. Dafür hat das Demokratiezentrum nun einen deutschlandweit einzigartigen berufsbegleitenden Master-Studiengang entwickelt. Tina Dürr, stellvertretende Leiterin des Zentrums, erklärt, was es damit auf sich hat.  

hessenschau.de: Es gab in Deutschland noch nie so viele unterschiedliche Studiengänge wie heute. Warum brauchen wir auch noch diesen?

Tina Dürr: Dieses ganze Berufsfeld ist noch relativ neu und kommt ursprünglich aus zivilgesellschaftlichen Initiativen. Weil das Thema aber in den letzten Jahren viel stärker wahrgenommen wird, haben wir auch deutlich mehr Menschen, die in dem Bereich arbeiten. Momentan kommen die Beraterinnen und Berater aus ganz unterschiedlichen Disziplinen: etwa aus der Sozialen Arbeit, Psychologie oder Politikwissenschaft. Vieles wird dann on the job gelernt. Es gibt zwar Workshops und Fortbildungsangebote, aber nichts Grundständiges, wo man wissenschaftlich fundiert und an der Universität angedockt diesen Beruf lernen kann.

hessenschau.de: Rechtsextremismus ist in Hessen auch aufgrund besonders krasser Vorfälle seit Jahren besonders präsent. Sind auch deshalb mehr Fachkräfte gefragt?

Tina Dürr: Einerseits gab es diese Vorfälle, die große mediale Aufmerksamkeit bekommen haben. Beispielsweise in Hanau sind wir als Demokratiezentrum, insbesondere mit unserer Beratungsstelle response, immer noch beratend involviert, weil das Attentat weiterhin Konsequenzen für die Stadtgesellschaft hat. So was bindet natürlich Ressourcen. Andererseits tragen solche Ereignisse dazu bei, dass die Zivilgesellschaft insgesamt sensibler und aktiver wird. Das Thema wird in der breiten Gesellschaft stärker wahrgenommen als noch vor zehn Jahren. Das merken wir dann auch an mehr Beratungsanfragen.

hessenschau.de: Nimmt Rechtsextremismus denn insgesamt zu oder gehen wir als Gesellschaft vor allem anders damit um?

Tina Dürr: Wenn wir auf die Einstellungsebene und die Studien dazu schauen, dann zeigt sich, dass ein konstant hoher Anteil der Bevölkerung zu rechtsextremen Einstellungen tendiert. Das heißt aber nicht, dass diese Menschen das auch äußern.

Es gibt gesellschaftliche Anlässe wie die Aufnahme von Flüchtlingen 2015 oder die Pandemie, die dazu beitragen, dass Dinge dann auch geäußert werden. Das wird von bestimmten sozialen Bewegungen oder Parteien noch weiter gefördert. Die Leute gehen dann auf die Straße, und das kann auch zu einer höheren Gewaltbereitschaft führen, die sich wiederum in der Statistik zeigt. Das Phänomen Rechtsextremismus ist aber eigentlich durchgängig da. Es ist vor allem die Frage: Welches Ideologieelement wird gerade virulent?

hessenschau.de: Auch Gegner der Corona-Maßnahmen haben sich in rechtsextremer Weise geäußert. Hat sich das auch in der Beratung gezeigt?

Tina Dürr: Ja. Während zum Beispiel 2015 das Thema vermehrt Flüchtlingsfeindlichkeit war, haben wir in dieser Zeit wieder mehr Antisemitismus gesehen. Es haben sich auch auffällig viele Einzelpersonen bei uns gemeldet, die das plötzlich bei sich im Freundeskreis oder in der Familie wahrgenommen und Hilfe gesucht haben.

hessenschau.de: Hat Sie die Verflechtung dieser Themen überrascht?

Tina Dürr: Ja, es hat mich überrascht, wie stark Verschwörungserzählungen verfangen - und das ja sogar in breiten Teilen der Gesellschaft. Und es ist interessant, wie die rechtsextreme Ideologie immer wieder in neuen Milieus verfängt, je nachdem welche Elemente daraus bespielt werden. Im Zuge der Pandemie sind sie sogar etwa in anthroposophischen, esoterischen - eigentlich eher linken - Milieus anschlussfähig geworden. Für uns ist die Herausausforderung, ein Stück weit vor der Lage zu sein: Also jetzt, wenn die Pandemie abebbt, die Themen zu erkennen, mit denen gewisse Gruppen weiter mobilisierbar bleiben.

hessenschau.de: Könnten das auch die aktuell wieder hohen Flüchtlingszahlen sein?

Tina Dürr: Ich freue mich sehr, dass es gerade so eine große Hilfsbereitschaft gibt, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen. Es wird sich noch zeigen, welche Konsequenzen das hat, zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt oder in den Schulen. Das ist dann der Knackpunkt: wenn es eng wird. Die Gefahr sehe ich dann, wenn einzelne Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Dafür ist durchaus Potenzial da.

hessenschau.de: Worum soll es im Studium ganz konkret gehen?

Tina Dürr: Das Berufsfeld ist ja sehr vielfältig. Auch die Themen, mit denen die Beraterinnen und Berater sich befassen, verändern sich immer wieder. Wir bieten deshalb einerseits fachliches theoretisches Wissen aus der Rechtsextremismus-Forschung. Und andererseits verbinden wir das mit der Handlungspraxis.

Wir vermitteln also auch Methoden, die die Studierenden brauchen, um ihr Wissen einer Zielgruppe dann auch zu vermitteln. Zum Beispiel: Wie adressiere ich sich radikalisierende Jugendliche? Wie arbeite ich mit Aussteigerinnen und Aussteigern? Wie kläre ich über Dynamiken auf, wenn ich mit Lehrkräften spreche oder einen Sportverein berate?

Das langfristige Ziel ist natürlich, dass das Berufsfeld, für das wir weiterbilden, sich selbst überflüssig macht. Diese Fachkräfte sollen die Zivilgesellschaft - also uns alle - unterstützen, um Rechtsextremismus und Rassismus entgegenzutreten.

Weitere Informationen

Masterstudiengang "Beratung im Kontext Rechtsextremismus"

Der Weiterbildungsstudiengang wird zum Wintersemester 2022/23 erstmals angeboten. Der Studiengang kann berufsbegleitend studiert werden und richtet sich an Fachkräfte mit Vorstudium und Vorerfahrung. Die Konzeption des Studiengangs entsteht in Kooperation des Fachbereichs Erziehungswissenschaften mit dem Demokratiezentrum Hessen und wird vom Land gefördert. Bis zu 20 Studierende können teilnehmen. Es gibt ein Bewerbungsverfahren. Für die anfallenden Studiengebühren von 3.900 Euro pro Semester kann laut Uni eine Unterstützung beantragt werden.

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Das Gespräch führte Rebekka Dieckmann.

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