Inklusion, Digitalisierung, Lehrermangel Schulen in Gießen schlagen Alarm wegen Überlastung
Elf Schulen in und um Gießen haben sich mit Überlastungsanzeigen ans Kultusministerium gewandt. Sie kritisieren unter anderem ständige Mehrarbeit, fehlende Ressourcen und psychische Belastungen. Schülervertreter bestätigen das.
Silke Flemming kommt morgens in der Regel gut gelaunt zur Arbeit. Sie liebe ihren Beruf, auch nach fast 30 Jahren, sagt die Gymnasiallehrerin aus Gießen. Trotzdem meint Flemming: Lehrerin sein, das bedeute mittlerweile häufig auch, am Limit zu arbeiten.
Die Lehrerin und Personalrätin hat deshalb an ihrer Schule, dem Landgraf-Ludwigs-Gymnasium, eine Überlastungsanzeige mit auf den Weg gebracht - so wie Lehrkräfte von noch mehreren anderen Schulen in und um Gießen in den vergangenen Monaten.
Das zuständige Schulamt teilt mit: Es handelt sich mittlerweile um elf Schulen von rund 140 im Schulamtsbezirk. Das Kultusministerium in Wiesbaden bestätigt auf hr-Anfrage eine aktuelle Häufung von Überlastungsanzeigen aus der Region. Zuerst hatte darüber die Gießener Allgemeine Zeitung berichtet.
Überlastungsanzeigen - was bedeutet das genau?
Beamte dürfen bekanntlich nicht streiken. Läuft aus ihrer Sicht bei der Arbeit etwas schief, bleiben ihnen nicht viele Mittel, um das zum Ausdruck zu bringen. Eins davon ist die offizielle Überlastungsanzeige an den Dienstherrn, bei Lehrkräften also das Land Hessen.
Das bedeutet: Die Beamten fürchten, unter den von ihnen wahrgenommenen Arbeitsbedingungen ihrer Pflicht nicht ausreichend nachkommen zu können - und geben das offiziell zu den Akten. Individuell ist, was genau solch eine Überlastung verursacht und wo die Grenzen des "Aushaltbaren" verlaufen.
Überlastungsanzeigen können von einzelnen Beamten verfasst werden, aber auch von Gruppen oder ganzen Personalvertretungen.
Inklusion, Ganztag, Bürokratie
An der Grundschule am Keltentor in Biebertal-Fellingshausen steht beispielsweise die gesamte Personalvertretung hinter der Überlastungsanzeige. Diese enthält eine mehrseitige Liste mit knapp 50 Unterpunkten, in denen die Lehrkräfte Mehrarbeit, fehlende Ressourcen, psychische Belastungen und bauliche Mängel kritisieren.
Konkret begründen die Lehrkräfte ihre Überlastung beispielsweise mit ständig neuen Sonderaufgaben, etwa durch fehlendes oder häufig wechselndes Personal, wachsende Bürokratie oder die Organisation des Ganztags. Auch die Inklusion von Kindern mit Förderbedarf bringe sie an ihre Grenzen. Es gebe zu wenig Stundenkontingente und Fachkräfte dafür.
Die Grundschullehrer fordern dringende Veränderungen - und zudem Haftungsfreistellung, "falls aufgrund unserer Arbeitsüberlastung Schäden entstehen sollten", wie es heißt.
"Die Bürde wird immer höher"
Auch an Silke Flemmings Schule steht die gesamte Personalvertretung hinter der Überlastungsanzeige, wie sie sagt. Flemming kritisiert in erster Linie ebenfalls strukturelle Probleme im Schulsystem, die ihr den Alltag als Lehrerin erschweren würden. "Die Bürde, die der Schule aufgelegt wird, wird einfach immer höher."
Flemming nennt beispielsweise die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und "zentrale gesellschaftliche Veränderungen", die auch in die Schule hineinwirken würden: etwa mehr psychische Erkrankungen bei Kindern, Lernrückstände nach monatelangen Schulschließungen, mehr Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache. "Die Schüler, die wir jetzt haben, brauchen viel mehr Aufmerksamkeit als die, die wir früher hatten."
Mehr Druck und Arbeitsbelastung
Der Druck und die Arbeitszeit steige, zum Beispiel durch die Digitalisierung, so Flemming. "Sie müssen sich das so vorstellen: Da kommen Geräte in die Schule und dann muss die Schule gucken, wie sie damit digital gestützten Unterricht umsetzt."
Es gebe für die Geräte keine Einweisungen, Fortbildungen oder gesteuerte Administration, kritisiert Flemming. "Vielleicht gibt es in der Schule einen, der kann es besonders gut - und der soll es dann den anderen erklären." In anderen Berufsfeldern wäre so etwas undenkbar, meint sie.
GEW: Zeichen der Krise des Bildungssystems
Unterstützung gibt es vom örtlichen Kreisverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die GEW sieht die Situation in Gießen als "Zeichen für eine Krise des Bildungssystems". Die Lehrkräfte seien am Limit, heißt es in einer Stellungnahme. Dies könne etwa zu Schlafstörungen und einem erhöhten Burnout-Risiko führen.
Konkret fordert die GEW einen besseren Personalschlüssel, geringere Klassengrößen und mehr Unterstützung bei Verwaltungsaufgaben.
Stadtschülerrat: "Wir merken das in der Schule"
Auch der Gießener Stadtschülerrat unterstützt den Vorstoß. "Wir stehen da Seite an Seite", sagt Stadtschulsprecher Maximilian Stock. Der Zwölftklässler meint: Der Stress vieler Lehrkräfte sei auch aus Schülersicht erkennbar. "Man merkt das zum Beispiel daran, dass sie einfach zu wenig Zeit haben für individuelle Gespräche." Es falle an einigen Schulen immer wieder Unterricht aus.
Stock kritisiert: Derzeit werde das Schulpersonal vom Dienstherrn im Stich gelassen. Auch in der Landespolitik passiere aus seiner Sicht momentan zu wenig. "Es ist wichtig, dass sich Menschen, die in Verantwortung stehen, sich eingestehen, dass da was falsch läuft, und auch den Willen zeigen, was zu verändern."
Hessenweit kein Anstieg der Überlastungsanzeigen
Das Kultusministerium kann auf hr-Anfrage keinen Grund für die Häufung von Meldungen aus der Region Gießen nennen. Hessenweit habe man in den vergangenen Jahren keinen allgemeinen Anstieg festgestellt. Im laufende Schuljahr seien bisher insgesamt 22 Überlastungsanzeigen registriert worden.
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Als häufigste Gründe für die Überlastung wurden laut Kultusministerium räumliche Gegebenheiten angegeben, etwa bauliche Mängel und Sauberkeit, sowie gestiegenes Arbeitspensum, beispielsweise für Verwaltungstätigkeiten. Auch "herausfordernde Arbeitsbedingungen", etwa durch verhaltensauffällige Kinder oder anspruchsvolle Elternarbeit, sowie Mehrarbeit durch Inklusion und Integration wurden genannt.
"Ungeachtet der Anzahl eingehender Überlastungsanzeigen, wird jede einzelne dieser Anzeigen sehr ernst genommen", so das Kultusministerium. Man mache den Schulen, "die Unterstützungsbedarf signalisieren", individuelle Angebote in einem "Entwicklungsprozess" zwischen Schule und dem zuständigen Schulamt. Begleitet werde dies von landesweiten Maßnahmen, die eine "Stärkung der Schulen insgesamt zum Ziel haben".
Schulamt: "In Gießen ist es nicht schlimmer als anderswo"
Für die Bearbeitung der Überlastungsanzeigen in Gießen ist Schulamtsleiter Norbert Kissel zuständig. Einige habe er bereits beantwortet, bei anderen sei er noch dabei. Aus Kissels Sicht ist die Situation in Gießen keinesfalls schlimmer als anderswo. Durch die Nähe zur Universität gebe es im Schulamtsbezirk sogar vergleichsweise wenig Lehrkräftemangel. "Es ist wohl eher so, dass es bei uns derzeit einfach eine größere Bereitschaft gibt, so eine Überlastungsanzeige auf den Weg zu bringen."
Ungeachtet dessen nehme man solche Überlastungsanzeigen im Schulamt sehr ernst, so Kissel. Zunächst mache er sich ein genaues Bild von der jeweiligen Lage und kontaktiere gegebenenfalls zuständige Stellen, etwa bei baulichen Problemen den Schulträger. Dann mache er der Schule Vorschläge, wie sich die Situation verbessern kann – zumindest in den Bereichen, die seine Zuständigkeit umfassen würden.
Bei vielen Themen ist Schulamt nicht zuständig
Bei vielen Themen, die in den Überlastungsanzeigen eine Rolle spielen, handle es sich um bildungspolitische Fragen, die man nicht vor Ort klären könne – sondern nur auf Landesebene. "Das Schulamt kann beispielsweise nicht Pflichtstunden für Lehrkräfte ändern oder Klassengrößen reduzieren."
Der Job als Lehrkraft sei anstrengend, bekräftigt Kissel, in vielerlei Hinsicht wohl auch anstrengender als früher. "Keiner negiert, dass es im Schulalltag sehr hart zugehen kann - so wie in vielen Berufen, in denen man mit Menschen arbeitet."
Lehrerin: Lasse mir Motivation für Job nicht nehmen
Silke Flemming glaubt ebenfalls nicht, dass die Situation in Gießen deutlich schlimmer ist als anderswo. Hier hätten sich nur vermehrt Kolleginnen und Kollegen dazu entschieden, ohnehin bekannte, wachsende Probleme noch mal deutlicher zum Ausdruck zu bringen.
Sie habe durchaus Hoffnung, dass sich im Schulsystem etwas bewegen lasse, sagt die Lehrerin. Und sie wolle sich von all dem auch nicht die Motivation für den Job nehmen lassen, betont sie. Meistens gehe sie nach dem Schultag auch wieder gut gelaunt nach Hause.
Sendung: hr1, die hessenschau für Mittelhessen, 06.06.2024
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