Silke Hable hat den Arm um ein im Rollstuhl sitzendes Mädchen gelegt. Beide lächeln.

In Hessen dürfen Eltern von behinderten Kindern entscheiden, ob diese zur Förderschule oder in eine Regelschule gehen sollen. Der Weg kann allerdings beschwerlich sein, wie das Beispiel einer Familie aus Südhessen zeigt.

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Der Kampf um die Inklusion an hessischen Schulen

Mutter und Kind
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Jeden Morgen machen sich Anna Hable und ihre Mutter in Michelstadt im südhessischen Odenwaldkreis auf den Weg zur Grundschule. Am liebsten mag die Achtjährige Rechnen und Malen. "Mit Wasserfarben", sagt Anna. "Und wie geht das?", fragt ihre Mutter. "Wir malen einen Kreis, einen Strich, drumherum ein dickes Herz, ganz einfach", antwortet Anna.

Einfach war ihr Weg an die Regelgrundschule dagegen nicht: Was für tausende Kinder in Hessen Alltag ist, hat die Familie Nerven und viel Kraft gekostet. Die Achtjährige sitzt wegen einer Zerebralparese im Rollstuhl, einer Bewegungsstörung, deren Ursache eine frühkindliche Hirnschädigung ist, wodurch Annas Muskulatur und Nervensystem geschädigt sind.

Silke und Udo Hable wollten, dass ihre Tochter auf eine Regelgrundschule geht - um zu vermeiden, dass Anna den Anschluss an die Dorfgemeinschaft verliert. Die Eltern gingen davon aus, dass ihre körperlich behinderte Tochter im Förderschwerpunkt "körperliche und motorische Entwicklung" eingeschätzt wird. Doch was dann folgte, warf die Eltern aus der Bahn.

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Was ist ein Förderschwerpunkt?

Der Förderschwerpunkt legt fest, wie Schülerinnen und Schüler mit Behinderung bestmöglich unterstützt werden können. Ein Kind mit Anspruch auf Förderbedarf kann im inklusiven Regelunterricht oder an einer Förderschule unterrichtet werden. Es kann jederzeit von den Eltern ein Antrag auf ein Festellungsverfahren bei der Schulbehörde gestellt werden. Manchmal wird dieser Antrag auch von der Schule gestellt. Das Gutachten wird meist von einer Lehrkraft der Schule und einer sonderpädagogischen Lehrkraft erstellt. Die Schulbehörde kann aber auch andere Fachkräfte, wie beispielsweise einen Schularzt hinzuziehen.

Es gibt insgesamt acht Förderschwerpunkte: geistige Entwicklung, körperlich motorische Entwicklung, Sehen, Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache, Hören und langfristige Erkrankungen. Je nach Förderschwerpunkt unterscheiden sich die Testverfahren.

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Vorwürfe gegen das Schulamt

Silke Hable berichtet, sie seien telefonisch über das Testergebnis informiert worden. Anna sei als "geistig behindert" eingestuft worden. "Dabei wird Anna seit der Geburt intensiv medizinisch betreut. Noch kein Neurologe, kein Psychologe oder anderer Mediziner kam irgendwann auf die Idee zu behaupten, Anna sei geistig behindert", sagt die Mutter.

Familie Hable wirft dem Schulamt vor, bei Anna ein falsches Testverfahren angewandt zu haben. Sie schaltet einen Anwalt ein. Für die Familie beginnt eine zermürbende Zeit. "Manchmal ist man wirklich einfach verzweifelt", erzählt Hable mit bebender Stimme. Sie ziehe aber auch Kraft aus der Wut, die entstanden ist.

Recht auf Inklusion

In Hessen haben Kinder mit Behinderung per Schulgesetz einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung gemäß ihren Bedürfnissen. Nach Angaben des Kultusministeriums wurden im vergangenen Schuljahr mehr als 11.000 Schülerinnen und Schüler mit einem festgestellten Anspruch auf sonderpädagogische Förderung an Regelschulen unterrichtet, knapp 22.000 an Förderschulen. Die Wahl, ob die Kinder eine Förderschule oder eine Regelschule besuchen, liegt bei den Eltern.

Trotzdem sehe die Realität oft anders aus, sagt Dorothea Terpitz, Vorsitzende der Beratungsstelle Gemeinsam leben Hessen. Der Verein setzt sich für Inklusion ein und berät Eltern. Mehrere hundert Beratungsfälle im Jahr landen auf dem Schreibtisch von Terpitz.

Dr. Dorothea Terpitz schaut freundlich lächelnd in die Kamera.

Familie Hable sei nicht die einzige, die sich über eine falsche Einschätzung des Förderschwerpunkts beklage. Das Testsystem sei willkürlich, meint Terpitz. Häufig würden Eltern auch zu einseitig beraten. Das biete Raum zum Missbrauch: "Man ist sehr schnell dabei, ein Kind, das eine stärkere Behinderung hat, abzustempeln."

Wenn der Förderschwerpunkt vorschnell vergeben werde und das Kind eigentlich gar nicht geistig behindert sei, dann erhalte es nicht die nötige Förderung. Beim Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung" konzentriere man sich für gewöhnlich vor allem auf lebenspraktische Fähigkeiten. "Das Beispiel von Anna, die sich vielleicht nicht so gut bewegen kann, aber die doch einen sehr guten Zugang zu Bildung hat, sehr schnell und sehr klug denken kann, zeigt, dass man ihr die ganze Bildung einfach vorenthalten hätte."

Das Schulamt weist die Vorwürfe zurück

Der falsche Förderschwerpunkt hätte ihr ein Leben lang zum Nachteil gereicht, befürchtet Terpitz. Im schlimmsten Falle hätte sie keine Chancen auf einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. "Sondern dann winkt eigentlich nur noch die Werkstatt für behinderte Menschen, und das bedeutet eigentlich ein Leben in der Grundsicherung und in der Abhängigkeit vom Sozialstaat", sagt Terpitz.

Das zuständige Schulamt für den Kreis Bergstraße und den Odenwaldkreis weist die Vorwürfe zurück. Die Leiterin des Staatlichen Schulamtes in Heppenheim, Susann Hertz, erklärt auf Anfrage des hr: "Ein fachliches Fehlverhalten bezogen auf das Beratungs- und Unterstützungsangebot sowie auf die erlasskonforme Anwendung der diagnostischen Mittel der involvierten Beratungs- und Förderzentren konnte nicht festgestellt werden."

Kritik am Testverfahren

Dr. Vera Moser forscht an der Goethe Universität zum Thema Inklusion.

Vera Moser forscht zum Thema Inklusion an der Frankfurter Goethe-Universität. Inklusion werde als Individualrecht des Kindes, nicht als Aufgabe des Bildungssystems gesehen, sagt sie. Auch die Erziehungswissenschaftlerin kritisiert die Testverfahren. Sie seien inhaltlich zu weit weg vom Unterricht. Hinzu komme: Die einzelnen Entwicklungsprobleme seien oft nicht trennscharf von anderen zu unterscheiden.

Häufig würden nicht nur die standardisierten Tests angewandt, sondern auch informelle Verfahren eingesetzt. Für die Zukunft wünsche sie sich, dass der Lernprozess des Kindes im Vordergrund steht, nicht die Persönlichkeit oder ihr Background. "Also das heißt, dass ich sehe, wie weit entwickelt sich denn dieses Kind im Bereich von Mathematik? Wie im Spracherwerb? Dann hätten Kinder eben auch nicht diesen Negativeffekt eines Stempels auf der Stirn."

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Inklusion als Landtagswahlthema

Das Thema Inklusion steht auch in den Wahlprogrammen der Parteien für die Landtagswahl. Während CDU und AfD mehr Förderschulen schaffen wollen, will die SPD Förderschulen abschaffen und in inklusive Schulen umwandeln. Zudem wollen die Sozialdemokraten, dass Grundlagen des inklusiven Unterrichtens Bestandteil jeder Lehrkräfteausbildung werden. Auch die Linke ist für eine inklusive Beschulung. Dafür will die Partei Kitas und Schulen entsprechend ausstatten.

Die Grünen, die CDU und die FDP möchten hingegen die Wahlmöglichkeit für die Erziehungsberechtigten zwischen inklusiver Beschulung und Förderschulen beibehalten. Die Grünen setzen vor allem auf eine Frühförderung und planen einen Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Förderpädagogen und Teilhabeassistenten.

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"Sie kann halt nur nicht laufen"

Familie Hable hat schließlich Erfolg. Der Anwalt erhält Akteneinsicht und einigt sich mit dem Staatlichen Schulamt. Anna wird mit dem Förderschwerpunkt "motorische und körperliche Entwicklung" auf einer privaten Regelgrundschule eingeschult. So wird neben dem normalen Unterricht Annas Handmotorik trainiert, und sie wird beim Laufen unterstützt. Eine Schulbegleiterin steht ihr zur Seite.

Anna lacht in die Kamera.

Heute geht Anna in die zweite Klasse. Silke Hable grinst, als sie sich an eine Situation aus Annas Schule erinnert: "Letztes Schuljahr sagte ein Kind zu Annas Schulbegleiterin: Weißt du, die Anna ist doch eigentlich ein ganz normales Kind. Sie kann halt nur nicht laufen. So nehmen die Kinder sie wahr."

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