86 Jahre nach der Reichspogromnacht Warum jüdischen Jugendlichen das Gedenken heute so wichtig ist

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war im gesamten Deutschen Reich von brutaler Gewalt gegen Jüdinnen und Juden geprägt – auch in Hessen. Drei jüdische Schülerinnen und Schüler erzählen, welche Rolle das Gedenken für sie spielt und wie sicher sie sich heute fühlen – 86 Jahre später.

Elisabeth, Lily und Noam, drei jüdische Jugendliche aus Frankfurt, schauen in die Kamera. Im Hintergrund das weiße Gebäude des Jüdischen Museums in Frankfurt.
Elisabeth, Lily und Noam sagen: "Nie wieder ist jetzt!" Bild © hr

In ganz Deutschland erinnern Städte und jüdische Gemeinden an diesem Wochenende an die Reichspogrome 1938. Auch in Hessen finden viele Gedenkveranstaltungen statt – zum Beispiel in Frankfurt, Kassel, Fulda, Hanau oder Marburg.

Videobeitrag

Warum jüdischen Jugendlichen das Gedenken heute so wichtig ist

Interview im Studio
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Aber wie blickt eigentlich die junge Generation von Jüdinnen und Juden auf dieses Datum und wie erleben sie Antisemitismus heute? Wir haben drei Schülerinnen und Schüler im Jüdischen Museum in Frankfurt getroffen.

Elisabeth (18 Jahre): "Der Hass ist wieder da"

Elisabeth schaut mit erstem Gesicht in die Kamera. Sie hat braune Augen und lange hellbraune Locken, sie trägt eine Brille und eine Kette mit einem Davidstern.
Elisabeth ist stolz darauf jüdisch zu sein. Trotzdem trägt sie ihren Davidstern nicht offen. Bild © hr

"An diesem Tag, dem 9. November, ist das Unakzeptable zum Akzeptablen geworden. Da wurde eine Schwelle von Hass überschritten, plötzlich war es okay, physisch das jüdische Leben kaputt zu machen. Es gibt Ereignisse, die in Erinnerung bleiben müssen. Für mich ist das Gedenken etwas sehr Persönliches, aber es muss auch öffentlich gemacht werden – vor allem weil es kaum noch Zeitzeugen gibt.

Jüdisch zu sein bedeutet mir viel: Es verbindet mich mit meiner Kultur, meiner Familie, meiner Schule. Es ist natürlich die Religion, aber es ist auch die Art, wie man lebt und mit wem man lebt. Ich bin stolz darauf, Jüdin zu sein – dass es so viele Stereotype und so viel Hass gegen etwas gibt, das eigentlich gar keinen Hass verdient, ist für mich sehr frustrierend.

Ich sehe viele Hassnachrichten online, in denen steht, dass Juden keine Menschen wären, dass Juden Terroristen wären. Ich finde den Kontrast sehr groß zwischen den sozialen Medien und dem, was wirklich aktuell passiert seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres: Ich telefoniere mit meinem Onkel in Israel und er verbringt mindestens zwei Stunden am Tag im Bunker, weil sie bombardiert werden. Meine Familie befindet sich in konstanter Gefahr und ich mache mir sehr große Sorgen.

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Antisemitismus ist hier überall präsent. Mit meinem Davidstern würde ich mich öffentlich nicht raustrauen, weil ich Angst habe, dass es Menschen gibt, die versuchen würden, mir etwas Böses anzutun – einfach nur aufgrund meines Glaubens. Diese Angst, dass man aktiv verstecken muss, wer man ist – sie ist immer da.

Nie wieder ist jetzt! Man hat gesagt, so etwas Brutales wie der 9. November 1938 sei heutzutage nicht möglich. Aber wir sehen, dass es doch möglich ist: Es gibt Attacken auf Synagogen und jüdische Gebäude, Markierungen mit Davidsternen und Hakenkreuzen. Wir müssen einfach verstehen, dass der Zweite Weltkrieg, der so abstrakt erscheint, eigentlich nicht so abstrakt ist. Hier vor uns findet eine Rekreation der Geschichte statt. Der Hass, er ist wieder da – und er ist zu spüren."

Noam (18 Jahre): "Wir müssen dagegen halten"

Noam sitzt auf einem Sessel in der Bibliothek des Jüdischen Museums in Frankfurt. Auf seinen dunkelbraunen, kurzen Haaren trägt er die traditionelle orthodoxe Kopfbedeckung Kippa.
Noam trägt jeden Tag seine Kippa und Schmuck mit jüdischen Symbolen. Bild © hr

"Wenn ich an die Pogrome denke, sehe ich als allererstes das Bild der Börneplatz-Synagoge in Frankfurt vor mir, die in Flammen steht. Menschen wurden verletzt, verhaftet und verschleppt, die heilige Thora wurde an hunderten Orten zerstört. Das schmerzt und löst schon eine Art Trauer aus.

Es ist für mich schwer vorstellbar, dass so etwas heutzutage nochmal passieren könnte. Aber durch den extremen Rechtsruck und auch den Antisemitismus, den wir von links aktuell erleben – vor allem seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres – ist für mich die Sorge viel präsenter, dass so etwas wieder passieren könnte und dass ich eines Tages vielleicht auch vertrieben werde.

Leider spielt Antisemitismus in meinem Leben eine wichtige und alltägliche Rolle. Seit meiner Kindheit steht die Polizei vor jeder jüdischen Institution, zu der ich gehe – sei es Kindergarten, Synagoge, Schule, Altenheim. Das gibt mir einerseits ein Gefühl von Sicherheit, aber es gibt mir auch ein Gefühl von Unwohlsein. Denn warum ist das so? Das ist so, weil Antisemiten nicht wollen, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt. Dagegen halte ich an, indem ich offen als Jude lebe. Ich trage meine Kippa jeden Tag – draußen trage ich aber oft eine Käppi drüber, aus Sicherheitsgründen.

Was müsste sich verändern? Es braucht mehr Aufklärung, viel mehr Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen, Bildung in und außerhalb der Schulen – nicht nur über den Nationalsozialismus, sondern über das Judentum heute. Wir müssen in der Gesellschaft nicht nur auf Antisemitismus reagieren, sondern auch generell bei Mobbing und Ausgrenzung dagegenhalten."

Wie das Jüdische Museum Frankfurt gegen Antisemitismus vorgeht

Das Jüdische Museum in Frankfurt bietet vielfältige Bildungs- und Vermittlungsangebote, u.a. Workshops für Schüler, Führungen, digitales Lernmaterial und Fortbildungen für Lehrkräfte. Das Projekt "AntiAnti" etwa ist ein kulturelles Bildungsprogramm zur Prävention gegen Extremismus und Antisemitismus an Berufsschulen in Frankfurt. Hier soll Selbstreflexion angeregt und Empathie gefördert werden, die Schüler setzen sich mit Diversität, jüdischer Kultur und Geschichte auseinander.

Arwin Mahdavi Naraghi gibt Workshops an Schulen und sagt, er erlebe dort einen starken Anstieg von Antisemitismus: reproduzierte antisemitische Stereotype, auch Verschwörungsmythen etwa durch TikTok und viel israel-bezogenen Antisemitismus. "Aber das ist kein verhärtetes Weltbild bei den Schülern, sondern es gibt eine große Offenheit und Gesprächsbereitschaft – sie haben auch das Bedürfnis, über das zu sprechen, was im Gaza-Krieg und seit dem 7. Oktober 2023 passiert."

In der politischen Bildung könne man einen geschützten Raum bieten und bei Unsicherheiten aufzeigen, was demokratischer Konsens ist und was die Grenzen des Sagbaren sind. Bei jüdischen Schülern spürt er "eine starke Verunsicherung und auch eine Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft, die nicht für sie da ist – die nicht laut wird und sagt: Nie wieder ist jetzt und wir müssen solidarisch sein mit Juden in Deutschland."

Lily (17 Jahre): "Viele wollen auf die jüdische Schule wechseln"

Lily blickt mit großen, braunen Augen in die Kamera und lächelt leicht. Sie trägt eine runde Brille, lange blonde Haare und eine cremefarbene Strickjacke.
Lily findet, dass es mehr Bildung und Aufklärung über jüdisches Leben heute braucht. Bild © hr

"Natürlich sind die Pogrome vor 86 Jahren lange her. Aber es ist wichtig, ihrer zu gedenken – weil wir auch heute wieder sehr viele Angriffe auf jüdische Institutionen sehen und Antisemitismus wieder ein größeres Thema wird. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was damals passiert ist – damit es eben nicht nochmal passiert.

Wenn ich neue Leute kennenlerne und erzähle, dass ich auf eine jüdische Schule gehe, kommen oft Aussagen wie: 'Du siehst ja gar nicht jüdisch aus! Ich hätte nicht gedacht, dass du jüdisch bist!' Diese alten Stereotype sind immer noch in vielen Köpfen.

Antisemitismus kennen wir von klein auf. Früher war er eher von der rechten Seite präsent, aber heute rückt auch linker Antisemitismus viel mehr in die Gesellschaft vor. Wir sehen zum Beispiel bei Pro-Palästina-Demos, dass dort Juden gleichgesetzt werden mit Israel und dem Zionismus.

Vor allem seit dem 7. Oktober 2023 gibt es viele jüdische Schüler, die auf nicht-jüdischen Schulen sind und die Schwierigkeiten in der Klasse bekommen haben. Weil sie mit dem Nahost-Konflikt in Verbindung gebracht werden. Viele wollen auf meine jüdische Schule wechseln, es gibt Wartelisten deswegen. Sie fühlen sich in normalen, öffentlichen Räumen nicht mehr wohl und sicher.

In einer idealen Welt würde ich mir wünschen, dass – egal welche Religion man hat und egal zu welcher Gruppe man gehört – man akzeptiert und toleriert wird von der Gesellschaft, ohne Ausgrenzung und ohne dass man sich bekämpft."

Sendung: hr INFO,

Quelle: hessenschau.de