Serhij Zhadan - bei der Friedenspreis-Verleihung in der Paulskirche Frankfurt - hinter ihm Publikum

In einer emotionalen Zeremonie hat der ukrainische Autor Serhij Zhadan in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In seiner Dankesrede beschrieb er die Brutalität des Krieges und kritisierte diejenigen, die die Ukraine zur Kapitulation auffordern.

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Serhij Zhadan mit Friedenspreis geehrt

hessenschau vom 23.10.2022
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Es ist eine für sein Engagement typische Begebenheit, mit der Serhij Zhadan seine Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche beginnt: Irgendwo an der Front bei Charkiw fragt der Fahrer einer Einheit von Soldaten nach einem Kühlfahrzeug - nicht etwa für Lebensmittel. Er möchte Leichen abtransportieren, die seit mehr als vier Wochen in der Sonne liegen.

Zhadan und andere freiwillige Helfer können den Wagen tatsächlich besorgen, bei der Übergabe wird ein Selfie gemacht. Eine Szene, mit der der Friedenspreisträger den Irrsinn und gleichzeitig die absurde Alltäglichkeit des Krieges in seinem Heimatland Ukraine untermalt. Wie soll man, wie soll er, angesichts solcher Begebenheiten, über den Krieg sprechen?

"Sprechen muss man. Gerade in Zeiten des Krieges"

Zhadan versucht es, auf Deutsch, tastet sich langsam vor, berichtet davon, wie sich im Krieg das Gefühl von Zeit und Raum ändert, wie die Menschen ihre Zukunftspläne aufgeben, wie sie versuchen, sich jeden halben Tag aufs Neue durchzukämpfen. Wie sie kaum frei atmen können.

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Dankesrede von Friedenspreisträger Serhij Zhadan

Serhij Zhadan nimmt den Friedenspreis entgegen.
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"Doch sprechen muss man. Selbst in Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges", sagt Zhadan, tastet sich weiter vor, beschreibt, wie schwer es für ihn ist, eine Sprache für das Erlebte zu finden, für den Tod, die Katastrophe, die ihn umgibt.

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Serhij Zhadan auf der ARD-Bühne

Serhij Zhadan mit ARD-Mikrofon in der Hand
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Die Welt tue sich manchmal schwer, wenn die Sprache der Ukrainer emotional werde. "Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre Emotionen rechtfertigen", betont Zhadan. "Aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu erklären."

"Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden"

Denjenigen (Intellektuellen) etwa, die einen schnellen Frieden um jeden Preis fordern und den Ukrainern vorschlagen, doch einfach ihre Waffen niederzulegen, entgegnet Zhadan: "Die Zivilbevölkerung in Butscha, Hostomel und Irpen hatte überhaupt keine Waffen. Was die Menschen nicht vor einem furchtbaren Tod bewahrt hat." Zhadan fragt: "Wo sollte für sie die Grenze zwischen einem Ja zum Frieden und einem Nein zum Widerstand verlaufen?" Und stellt fest: "Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden."

Die Ukrainer aufzufordern, ihren Widerstand aufzugeben, überschreite die Grenzen der Ethik. Wolle die Welt etwa "um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse schlucken?", fragt Zhadan weiter. Und: "Müssen wir unser Recht auf Existenz in dieser Welt in Erinnerung rufen, oder ist dieses Recht offensichtlich und unantastbar?"

"Der Krieg verändert unser Gedächtnis"

Der Krieg werfe unangenehme Fragen auf, die weit in die Zukunft reichten: Fragen des Umgangs mit Populismus etwa, Fragen der Ethik, der Verantwortungslosigkeit oder des Messen mit zweierlei Maß. Für sein Land dauere der Krieg auch nicht erst einige Monate, sondern schon Jahre, erinnert Zhadan. Es sei Zeit für Europa, sich der Wirklichkeit von Massengräbern zu stellen.

Es sei aber auch Zeit darüber nachzudenken, wie es nach dem Krieg weitergehen kann. "Der Krieg verändert unser Gedächtnis und füllt es mit äußerst schmerzhaften Erlebnissen, äußerst tiefen Traumata und äußerst bitteren Gesprächen", sagt Zhadan. Für ihn als Dichter bedeute das: "Natürlich ist Dichtung nach Butscha und Isjum weiterhin möglich, ja, sie ist sogar notwendig. Aber der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen."

Doch er will mit der Dichtung, der Literatur weitermachen, irgendwann, betont Zhadan: "Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf." Die Zuhörenden in der Paulskirche bedankten sich mit minutenlangen Standing Ovations für die Rede.

"Immer ist er mitten unter seinen Leuten"

In ihrer Laudatio lobte die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann zuvor genau diese sprachliche Kraft des Preisträgers: "Zhadan, der uns in seinem Werk so viele unterschiedliche Biografien wie nur möglich vergegenwärtigt, wählt nie die Vogelperspektive", sagte sie. "Wir werden in seinem Blick keine Distanz erkennen. Immer ist er mitten unter seinen Leuten. Er schreibt und spricht sozusagen aus deren Lunge heraus. In Zhadans Poesie holt die ukrainische Gesellschaft Luft."

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Friedenspreis-Laudatio von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann am Podium in der Paulskirche
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Kaum ein Autor beschreibe derart gut das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer , der "sich neuverorteten ukrainischen Gesellschaft", sagte Salzmann. Dabei könne Literatur die Welt nicht retten, keine Kriege gewinnen. "Aber was sie kann, ist den Augenblick herstellen, in dem man erleichtert, erstaunt oder verzückt aufatmet. Und dieses kurze Luftholen mag einen Moment des Friedens enthalten. Denn Luft holen ist immer auch ein Zeichen der Hoffnung."

"Wir hätten das alles ahnen können"

In ihren Grußworten bedankten sich Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) und die Vorsitzende des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, für Zhadans humanitären Einsatz im Krieg. Sie betonten, dass sie sich in diesem Jahr keinen würdigeren Preisträger vorstellen könnten. Hartwig möchte die Verleihung verstanden wissen "als Gruß an die Ukrainerinnen und Ukrainer, dass wir ihnen Frieden in einem befreiten Land wünschen".

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Die Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels seit 2013

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Schmidt-Friderichs betonte mit stockender Stimme, wie beschämt der Stiftungsrat nach der Lektüre von Zhadans Roman "Internat" (2017) war: "Wir hätten das alles ahnen können, wenn wir diese literarische Annährung an den Alltag des Krieges früher und bewusster gelesen hätten", sagte sie.

Das ist Serhij Zhadan

Serhij Zhadan wird am 23. August 1974 in der Region Luhansk in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine geboren. Mit 17 Jahren zieht er in die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt Charkiw, wo er Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik studiert. Inzwischen ist der Schriftsteller, Übersetzer und Musiker einer der wichtigsten Künstler und Aktivisten seines Landes. Der 48-Jährige wird für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung geehrt.

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt werden Persönlichkeiten, die in Literatur, Wissenschaft oder Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen haben. Die Preisverleihung findet traditionell am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse statt. Im vergangenen Jahr ging die Auszeichnung an die Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga.

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