Drohende Netrebko- und Roger-Waters-Verbote "Cancel Culture ist große Gefahr für die Kunstfreiheit"

Wiesbaden streitet über zwei geplante Auftritte der Sopranistin Anna Netrebko, Frankfurter Politiker fordern eine Absage des Konzerts von Roger Waters. Rechtlich bewege sich die Politik damit auf dünnem Eis, sagt der Gießener Rechtswissenschaftler Maximilian Roth im Interview.

Roger Waters und Anna Netrebko nebeneinander in einer Fotomontage
Umstrittene Künstler: Rink-Floyd-Gründer Roger Waters und die Sopranistin Anna Netrebko. Bild © picture-alliance/dpa, picture-alliance/dpa
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Wie weit dürfen staatliche Stellen in die Kunst eingreifen? Eine Frage, die aktuelle Rufe aus der Politik nach Konzertabsagen aufwirft.

In Wiesbaden streiten Magistrat und Intendanz der Maifestspiele über zwei Auftritte der russischen Sopranistin Anna Netrebko, der Putin-Nähe nachgesagt wird. In Frankfurt wollen drei Oberbürgermeisterkandidaten einen Auftritt des Pink-Floyd-Gründers Roger Waters in der Festhalle verhindern. Er hat sich immer wieder antisemitisch geäußert und unterstützt die BDS-Kampagne, die Israel politisch, wirtschaftlich und kulturell isolieren will.

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Streit um Netrebko-Auftritt

hessenschau vom 24.01.2023
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Solche Absagen zu fordern oder sogar darauf hinzuwirken, ist rechtlich problematisch, sagt Rechtswissenschaftler Maximilian Roth von der Universität Gießen im Interview. Roth ist Experte für öffentliches Recht und Rechtstheorie und beschäftigt sich unter anderem mit der Kunstfreiheit.

hessenschau.de: Herr Roth, stehen staatliche Stellen oder Politiker auf einem rechtlich sicheren Grund, wenn sie Absagen von Konzerten fordern oder - wie im Fall von Roger Waters - der Geschäftsführung der Frankfurter Messe Druck machen?

Maximilian Roth: Die Kunstfreiheit ist in Artikel 5 des Grundgesetzes vorbehaltlos gewährt. Neben der künstlerischen Betätigung ist auch die Verbreitung, die Vervielfältigung und Darbietung des Werks geschützt.

Dazu zählen auch Konzerte oder das Ausstellen von Bildern. Eingriffe sind nur zum Schutz anderer Verfassungsgüter erlaubt. Also, wenn zum Beispiel Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt werden oder wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung geschützt werden soll.

Selbst dann muss aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden. Pauschal kann man das aber nicht sagen, es kommt immer auf den konkreten Einzelfall an.

hessenschau.de: Dafür gibt es zwei aktuelle Beispiele: die Diskussionen um Konzerte von Anna Netrebko und Roger Waters.

Roth: Es wäre zu prüfen, ob durch das Konzert von Roger Waters antisemitische Hetze erfolgt oder durch den Auftritt von Anna Netrebko die völkerrechtswidrige Politik Russlands verherrlicht wird.

Das bloße Anknüpfen an die Herkunft einer Künstlerin wie in diesem Fall an Russland wäre aber ein Verstoß gegen Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes, der eine Benachteiligung alleine wegen der Herkunft ausschließt.

hessenschau.de: Es reicht also auch nicht, dass sich Netrebko 2014 nach der Annexion der Krim mit pro-russischen Separatisten getroffen oder im Kreml ihren 50. Geburtstag gefeiert hat?

Roth: Meiner Ansicht nach reicht das alleine gesehen nicht aus. Anders wäre es, wenn sie den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands und die dahinter stehende Politik Putins quasi in ihrer Person als Sängerin in die Maifestspiele transportiert, weil sie ein Abbild dieser Politik darstellt. Das hat sie über ihren Manager aber bestreiten lassen.

Deswegen bleibe ich skeptisch. Um eine so genannte gerichtsfeste Gefahrenprognose anstellen zu können, bedarf es nämlich konkreter Anhaltspunkte, dass sie sich mit der völkerrechtswidrigen Politik Russlands identifiziert.

hessenschau.de: Roger Waters wiederum hat auf Konzerten zum Beispiel einen Davidstern auf ein Schwein projiziert. Ist hier ein Eingriff der Politik eher gerechtfertigt oder muss man das Konzert abwarten und kann gegebenenfalls nachträglich juristisch gegen ihn vorgehen?

Roth: Die Behörden sind immer dann berechtigt und möglicherweise sogar verpflichtet, im Vorfeld schon einzuschreiten, wenn ein so genanntes strafbewehrtes Verhalten zu befürchten ist, zum Beispiel durch Volksverhetzung oder Beleidigung.

Dafür gibt es ein Beispiel aus Saarbrücken: Im Dezember 2019 wollte dort der Rapper Kollegah ein Konzert geben. Dagegen hat sich ein jüdischer Bürger zivilrechtlich gewehrt. Dem Konzertveranstalter wurde daraufhin gerichtlich verboten, dass Kollegah den Song mit der Textzeile "Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen" singt. Diesen Song musste er aus dem Konzert streichen.

Hier hätte die Stadt also schon im Vorfeld auf Grundlage von polizei- und ordnungsrechtlichen, möglicherweise auch versammlungsrechtlichen Befugnissen einschreiten können, weil hier der Tatbestand der Volksverhetzung und Beleidigung durch das Präsentieren des Songs erfüllt worden wäre.

hessenschau.de: Das heißt: Die Stadt Frankfurt kann keine Absage des Konzerts verlangen, aber eine Auflage verfügen, keine antisemitische Symbolik zu verwenden?

Roth: Sofern die Stadt im Vorfeld im Rahmen ihrer anzustellenden Gefahrenprognose zur Einschätzung kommt, dass antisemitische Symbole verwendet werden, ja. Die Städte sind gehalten, diese Gefahrenprognose auf taugliche Kriterien und Tatsachen zu stützen, weil die Rechtsprechung an sie hohe Anforderungen stellt.

hessenschau.de: Wie sieht es mit Waters' Unterstützung der BDS-Kampagne aus?

Roth: Zu dieser Kampagne hat das Bundesverwaltungsgericht vor knapp einem Jahr eine Grundsatzentscheidung getroffen. Der Münchener Stadtrat hatte beschlossen, dass für Veranstaltungen, die sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, keine städtischen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden dürfen.

Das stellt nach Ansicht des Gerichts aber eine Verletzung der Meinungsfreiheit dar, wenn die Nutzung der städtischen Einrichtung allein aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema ausgeschlossen sein soll.

Das kann man auf die Kunstfreiheit übertragen: Die bloße Zugehörigkeit zur BDS-Kampagne kann ein Auftrittsverbot eines Künstlers nicht rechtfertigen. Also, es kommt wieder auf den Einzelfall an - selbst bei staatlicher Förderung von künstlerischen Angeboten.

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BDS

Boycott, Divestment and Sanctions (dt. Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), kurz BDS, ist eine politische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. Das Ziel: Israel soll laut BDS unter anderem die "Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes" beenden.

Neben palästinensichen Organisationen unterstützen viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Prominente BDS. Führende BDS-Vertreter bestreiten derweil offen das Existenzrecht Israels und wollen diesen Staat abschaffen.Viele Forscher ordnen die Kampagne als antisemitisch ein, einige Parlamente und Regierungen tun das ebenfalls, darunter der Deutsche Bundestag.

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hessenschau.de: Apropos, mit staatlicher Förderung rechtfertigen staatliche Stellen Eingriffe im Vorfeld. Das ist juristisch auch nicht haltbar?

Roth: Zunächst: Künstler haben keinen Anspruch auf öffentliche Ausstellung oder Darbietung. Sie sind heutzutage aber von staatlichen Leistungen, Institutionen und Ausstellungsmöglichkeiten abhängig, sodass die Kunstfreiheit auch als Teilhaberecht neben dem klassischen Abwehrrecht relevant wird. Entschließt sich der Staat, bestimmte künstlerische Aktionen zu fördern, schafft er zugleich einen Bedarf nach grundrechtlicher Kunstfreiheit.

Juristisch wird es unterschiedlich dogmatisch begründet, aber einhellige Meinung ist, dass Kunstschaffende auch bei öffentlicher Förderung in der Ausübung ihrer Tätigkeiten frei sein müssen. Damit gelten vom Schutzbereich der Kunstfreiheit gedacht keine Einschränkungen, auch nicht, wenn die Veranstaltung staatlich gefördert wird. Eingriffe können damit nur unter den gleichen, oben gesagten Grundsätzen erfolgen. Möglich sind sie aber.

hessenschau.de: Macht es eigentlich einen Unterschied, in welchem Kontext staatliche Stellen oder Politiker mit Eingriffen drohen? Stichwort OB-Wahlkampf in Frankfurt?

Roth: Man muss differenzieren, wer genau Eingriffe fordert. Ist es ein Parteipolitiker oder ein Amtsträger? Parteipolitiker können sich auf die Meinungsfreiheit berufen und sich weiter positionieren als Amtsträger, etwa Personen, die dem Magistrat der Stadt Frankfurt angehören. Diese sind in ihrer Eigenschaft als Stadtrat der Neutralität und Sachlichkeit verpflichtet und können sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.

Ganz kompliziert wird es bei Politikern, die eine Doppelrolle innehaben wie etwa Uwe Becker. Auf der einen Seite ist er in Frankfurt Oberbürgermeisterkandidat, auf der anderen Seite ist er Antisemitismusbeauftragter (der Landesregierung, d. Red.) und damit Hoheitsträger, der wiederum die Aufgabe hat, das jüdische Leben in Hessen zu fördern. Es kommt damit immer darauf an, welchen "Hut" die sich äußernde Person gerade auf hat. Die Abgrenzung ist nicht immer leicht, aber möglich.

hessenschau.de: Gibt es inzwischen generell mehr Debatten und juristische Auseinandersetzungen um die Kunstfreiheit?

Roth: In einer polarisierten Gesellschaft, in der wir heute leben, kommen auch immer wieder Angriffe auf die Kunst aus Teilen der Gesellschaft vor. Mein Eindruck ist aber, dass es öfter eine vorschnelle Einordnung als "No-Go" oder als "Tabubruch" gibt, auch von Teilen der Politik.

Ein Paradebeispiel war die Debatte um das Lied "Layla". Ohne die Diskussion wäre das Lied niemals so erfolgreich gewesen. Der Aufschrei hat dazu geführt, dass der von Teilen der Gesellschaft verachtete Song noch mehr Aufmerksamkeit bekommen hat.

Cancel Culture stellt eine ganz große Gefahr für die Kunstfreiheit dar. Denn Kunst eröffnet Diskursräume, und dazu gehört auch ein Song wie Layla. Und Kunst darf der Gesellschaft in gewisser Weise auch weh tun - solange sie keinen Straftatbestand erfüllt oder gegen andere Verfassungsgüter verstößt.

Das Gespräch führte Sonja Fouraté.

Quelle: hessenschau.de

Ihre Kommentare Sollten Anna Netrebko und Roger Waters auftreten dürfen?

32 Kommentare

  • In einer demokratischen Gesellschaft hat jeder die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern. Man muss sie ja nicht teilen. Wir sind inzwischen zu einer Gesellschaft mutiert, in der jeder sich nur noch beleidigt und in seiner Würde verletzt sieht, wenn eine andere Meinung als die eigene geäußert wird. Es wird niemand gezwungen, die Konzerte zu besuchen. Unsere Politiker wären gut beraten, nicht jeder Stimme hinterherzurennen sondern sachlich zu entscheiden. Auf welcher Grundlage sollen diese Veranstaltungen verboten werden? Ich finde diese Diskussion überflüssig und peinlich. Natürlich sollen die Konzerte stattfinden.

  • auf jeden fall sollten die beiden auftreten.
    es ist nicht auszuhalten, wie sehr soll hier die spalterei noch betrieben werden.
    ich bin kein religiös gläubiger mensch, doch mein leitspruch ist: wer von euch ohne sünde ist, werfe den ersten stein.

  • Aber sicher! Hunderte deutsche Firmen machen weiterhin Geschäfte in Russland und kein Mensch muss die aktuelle Politik in Israel gut finden.
    Wo kommen wir denn hin, wenn wir alle anders Denkenden aus der Kunst verbannen? Ich halte das für eine gefährliche Schiene.

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