Eine Figur steht vor dem verhüllten Banner von Taring Padi

Was lief falsch in der Antisemitismus-Debatte bei der documenta? Das sollte ein Gutachten im Auftrag der Kulturstaatsministerin aufarbeiten. Jetzt wurde es veröffentlicht. Für den ehemaligen documenta-Berater Meron Mendel ist es ein Leitfaden für zukünftige Kulturveranstaltungen.

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Gutachten zur documenta

hessenschau von 16:45 Uhr
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Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) hat am Dienstag ein Gutachten veröffentlicht, das die Antisemitismus-Debatte rund um die documenta 15 juristisch einordnet und klären soll, wie der Staat und seine Kultureinrichtungen mit antisemitischen und rassistischen Werken umgehen können.

Der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers kommt darin zu dem Schluss, dass der Einfluss staatlicher Stellen nur sehr eingeschränkt sein kann. Eine Vorab-Kontrolle künstlerischer Programme etwa würde der im Grundgesetz verankerten Kunstfreiheit widersprechen (hier eine Zusammenfassung des Gutachtens).

Für Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und ehemaliger Berater der documenta, ist das Gutachten eine überfällige Klärung, die auch kommende Debatten versachlichen kann.

Meron Mendel - Leiter der Bildungsstätte Anne Frank

hessenschau.de: Herr Mendel, welche Aussagen des nun veröffentlichten Gutachtens halten Sie für besonders wichtig? 

Meron Mendel: Die wichtigste Aussage des Gutachtens ist, dass es die Aufgabe der Gesellschaft ist, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Nur in Ausnahmefällen, wenn es um Volksverhetzung geht, dann sollte der Staat eingreifen.  

hessenschau.de: Das klingt nach einem Freibrief, nach dem Kunst alles darstellen darf. 

Mendel: Die Kunstfreiheit ist im Grundgesetz geschützt. Das macht das Gutachten noch einmal klar und das muss man ernst nehmen. Zugleich unterstreicht das Gutachten, dass etwas, das erlaubt ist, durchaus auch kritisiert werden darf. 

Diese Unterscheidung ist ganz wichtig: Man darf also im Zweifel Kunstausstellungen zulassen, in denen Werke mit rassistischen oder antisemitischen Motiven gezeigt werden, aber die Gesellschaft muss das dann kritisieren und dagegenhalten. Der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist ein Kampf von jedem und jeder von uns.  

Es muss also klar sein: Wenn jemand auf die Idee kommt, ich stelle Kunst aus, die Antisemitismus oder Rassismus fördert, dann muss ich mit Gegenwind rechnen, und zwar nicht vom Staat, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern, die nicht tolerieren wollen, dass so etwas offen gezeigt wird.  

hessenschau.de: Hätte eine solche juristische Einordnung bei der Debatte rund um die documenta geholfen? 

Mendel: Ja, ein solches Gutachten hat uns in der documenta-Debatte gefehlt, weil ständig die Aufgaben des Staates, der documenta-Leitung, der Kuratoren und der Presse vermischt wurden. Das wird jetzt sauber zugeordnet. 

hessenschau.de: Was wurde zum Beispiel vermischt? 

Mendel: Es ist jetzt klar und juristisch abgesichert, dass zum Beispiel die Forderungen an Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die documenta zu schließen oder Bilder abzuhängen, nicht umgesetzt werden konnten, da sie keine rechtlichen Grundlagen hatten. Möllers Gutachten zeigt, dass die Handlungsmöglichkeiten des Staates in einer solchen Kunstausstellung äußerst begrenzt sind.  

Vielmehr müssen wir den Blick auf die Gesellschaft, auf das Publikum lenken: Wie reagiert eine Gesellschaft darauf, dass im öffentlichen Raum in einer solch prominenten Kunstausstellung immer wieder Verletzungen von Menschen, von Minderheiten stattfinden? 

hessenschau.de: Aber wer hätte wann eingreifen müssen, damit die Debatte nicht aus dem Ruder läuft? 

Mendel: Für mich ist eine wichtige Lehre aus dieser documenta und dem jetzt vorgelegten Gutachten, dass kuratorische Leitungen bei solchen Ereignissen mehr Verantwortung übernehmen müssen. Sie sollten Debatten führen und ihnen nicht ausweichen, indem sie reflexhaft auf die Kunstfreiheit verweisen. Diese ist garantiert und es geht wie gesagt nicht darum, im Auftrag des Staates Kunstwerke abzuhängen.

Es geht darum, dass gerade die kuratorische Leitung einer solchen Ausstellung die Verantwortung hat, dass diese nicht dezidiert Menschen oder Minderheiten verletzt oder Gewalt und Terror verherrlicht. 

hessenschau.de: Ist rückblickend auch etwas gut gelaufen? 

Mendel: Eine sehr prominente Frage war zum Beispiel: Wie soll mit "People's Justice" von Taring Padi umgegangen werden? Hier hat Herr Möllers keine klare Aussage getroffen, ob es nur Antisemitismus auf dem Kunstwerk gab oder ob die fraglichen Motive auch den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt haben. Das ist eine Frage für Juristen. 

Die Entscheidung, das Kunstwerk abzuhängen war am Ende eine Entscheidung der documenta selbst, das wurde weder vom Bund noch vom Land verordnet. Von daher war diese Reaktion auch rückblickend die richtige. 

hessenschau.de: Kunst kann also auch abgehängt werden, wenn sie zu verletzend ist. 

Mendel: Das sollte das letzte Mittel sein. Es ist kein Zufall, dass in unserer Demokratie die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit so hohe Güter sind. Die Aufgabe von Kunst ist es, manchmal auch zu irritieren, Normen zu verletzen und uns vor den Kopf zu stoßen. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Lassen wir uns irritieren? Reagieren wir darauf?  

Das Schlimmste, was in einem solchen Fall passieren kann ist, dass die Besucherinnen und Besucher einfach vorbei laufen, antisemitische oder rassistische Werke zur Kenntnis nehmen, sie vielleicht sogar schön finden. Das wäre eine Bestätigung, dass diese Themen für die breite Mehrheit egal sind. Und es wäre eine Bestätigung und Verfestigung von rassistischen und antisemitischen Vorstellungen. 

hessenschau.de: Also, die Besucherinnen und Besucher sollten nicht einfach vorbei laufen, sondern laut werden oder zumindest Fragen stellen. 

Mendel: Wir sollten nicht hoffen, dass eine Ministerin von oben kommt und für uns Werke abhängen lässt, die wir nicht gut finden. Es ist die Aufgabe von jedem und jeder von uns, einzuschreiten und zu sagen: Das gefällt mir nicht. Ich stelle Fragen an das Kuratorenteam, etwa: Was ist der künstlerische Wert dieses Kunstwerks? Diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können wir nicht ausweichen - sie sollten nur sachlich und konstruktiv sein, dabei kann das Gutachten von Professor Möllers helfen. 

hessenschau.de: Die nächsten Auseinandersetzungen stehen gerade an: Frankfurter Politiker fordern eine Absage des Konzerts von Roger Waters und in Wiesbaden fordern Politiker, von zwei Auftritten von Anna Netrebko bei den Maifestspielen abzusehen. Werden hier dieselben Fehler wie bei der documenta wiederholt? 

Mendel: Ja, wir sehen hier das gleiche problematische Muster: Das Publikum wird von der Politik bevormundet. Es ist aber nicht die Aufgabe der politischen Amtsträger, über Ausladungen von Künstlern zu entscheiden. Das Publikum, die Zivilgesellschaft muss hier aktiv werden.

Wenn Leute die Einladungen von Roger Waters oder Anna Netrebko für falsch halten, dann sollen sie dagegen demonstrieren, Protestbriefe schreiben oder sich von den Veranstaltungen fernhalten. Wir haben als Bürger in der Demokratie ausreichend Mittel, eine Position zu beziehen und Einfluss zu nehmen. Das ist unsere Aufgabe und Pflicht. Wir sollen nicht erwarten, dass der Staat diese Arbeit für uns erledigt. 

Das Gespräch führten Ana Rakic und Sonja Fouraté.

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Die zentralen Thesen des Gutachtens

  • Auch antisemitische und rassistische Werke und Äußerungen sind von der Meinungs- und Kunstfreiheit geschützt, und das selbst in staatlich finanzierten Institutionen.
  • Meinungs- und Kunstfreiheit sind nicht zu haben ohne den "freiheitlichen Skandal der grundgesetzlichen Ordnung". Will sagen: Wer in einem freien Land leben will, muss auch Dinge ertragen, die ihm nicht gefallen. Die Grenze verläuft bei Beleidigung, Volksverhetzung, Aufrufen zu Gewalt und bei der Leugnung des Holocausts - also bei Straftatbeständen.
  • Der Staat darf weder zensieren noch vorab Kunstschaffende, deren Werke oder Programme kontrollieren, auch wenn er Geld gibt. Das wäre Staatskunst. Wenn der Staat ein Werk oder eine Ausstellung kritisch sieht, darf er Stellung nehmen und sich distanzieren.
  • Die Verwaltung von Kulturinstitutionen muss von ihren künstlerischen Abteilungen klar getrennt sein.
  • Kulturelle Programme müssen nicht ausgewogen sein.
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