Janine Wissler sitzt in der hr-Wählbar an einem Tisch, spricht und gestikuliert mit ihren Händen.

In die Bundestagswahl geht Janine Wissler diesmal nicht nur als Spitzenkandidatin. Im Interview spricht die Bundesvorsitzende über schwache Umfragewerte, Zweifel an der Regierungsfähigkeit ihrer Partei - und warum im Auto- und Pendlerland Hessen Angst vor Linken in einem Bundeskabinett unangebracht sei.

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Bundestagswahl – Janine Wissler (Linke) in der "WählBAR"

hs
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Seit Februar ist Janine Wissler, Frontfrau der Linken im Landtag, eine von zwei Bundesvorsitzenden ihrer Partei. Dass sie als hessische Spitzenkandidatin in den Bundestag wechseln wird, scheint gewiss. Allerdings ist die Linke unter der Führung der 40-Jährigen in den aktuellen Umfragen dem Reißen der Fünf-Prozent-Hürde näher als dem erstrebten zweistelligen Ergebnis.

Falls es reicht, ist immer noch unklar: Wird Wissler wie stets zuvor Oppositionspolitikerin oder vielleicht doch Regierungsmitglied? Im Interview macht die als Fundi geltende Frankfurterin klar: Ein rot-grün-rotes Bündnis müsste weder an ihr noch an den bei möglichen Koalitionspartnern umstrittenen Postionen der Linken scheitern.

hessenschau.de: Frau Wissler, noch sind Sie im Landtag, nicht im Bundestag. Wie hätten Sie sich bei der Abstimmung über die Evakuierungsmission der Bundeswehr in Kabul verhalten?

Janine Wissler: Ich hätte mich enthalten, so wie das unsere Fraktion mehrheitlich getan hat.

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Janine Wissler über Nachteile ihrer späten Wahl zur Linken-Chefin

Janine Wissler mit den hessenschau.de-Redakteuren Max Sprick (li.) und Wolfgang Türk
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hessenschau.de: Einige haben aber auch dafür gestimmt, andere sogar mit Nein. In einer wesentlichen Frage wieder keine Einstimmigkeit in der chronisch zerstrittenen Linken zu erreichen - ist das nach einem halben Jahr als Co-Parteivorsitzende nicht enttäuschend für Sie?

Janine Wissler: Wir waren ja inhaltlich alle der Meinung, dass so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan ausgeflogen werden müssen. Aber wir sind auch alle darin einer Meinung, dass es fatal ist, wie die Bundesregierung die Betroffenen im Stich gelassen und Menschen mit bürokratischen Begründungen abgewiesen hat.

Den Evakuierungseinsatz, der ja sehr gefährlich war und durch den letztlich viel zu wenige gerettet wurden, hätte man verhindern können, wenn die Bundesregierung rechtzeitig gehandelt hätte. Diskutiert haben wir darüber, durch welches Abstimmungsverhalten wir unsere Zustimmung zur Evakuierung und unsere Kritik an der Umsetzung zum Ausdruck bringen.

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„Nicht die Linke, die Bundesregierung war außenpolitisch nicht verlässlich.“
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hessenschau.de: Jedenfalls hat die Union einen Aufhänger für ihre Linksrutsch-Kampagne gegen Rot-Grün-Rot. Und laut Frau Baerbock hat sich die Linke ins Abseits gestellt, Herr Scholz findet Ihr Verhalten schlimm.

Janine Wissler: Was wir jetzt erleben, sind doch billige Ablenkungsmanöver der Fraktionen, die diesen Einsatz befürwortet haben. CDU/CSU und FDP waren immer dafür, während der rot-grünen Regierungszeit wurde dieser Kriegseinsatz begonnen. Das finde ich schlimm. 12,5 Milliarden Euro hat allein der Bundeswehreinsatz gekostet. Und die Situation in Afghanistan ist schlimmer als vorher.

Jetzt so zu tun, als ob die Linke außenpolitisch umdenken müsste, ist angesichts dieses Desasters geradezu absurd. Wir haben immer gegen diesen Einsatz gestimmt und kämpfen seit Jahren für einen Abschiebestopp, während noch vor vier Wochen abgeschoben wurde nach Afghanistan. Noch im Juni haben Linke und Grüne beantragt, Ortskräfte schnell auszufliegen. Union und SPD waren dagegen. Nicht die Linke, die Bundesregierung war außenpolitisch nicht verlässlich und hat Menschen in Lebensgefahr gebracht.

hessenschau.de: Sie haben nun ein Sofortprogramm für eine Regierungsbeteiligung nachgelegt. Werden Sie SPD und Grüne damit überzeugen, auch regierungsfähig zu sein?

Janine Wissler: Deutschland braucht nach 16 Jahren der verlorenen Zeit unter Angela Merkel einen Politikwechsel. Wir kommen beim Klimaschutz nicht voran, die soziale Ungerechtigkeit wächst, die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist angespannt, wir müssen die Renten sichern. Da müssen sich SPD und Grüne doch fragen, mit wem sie ihr Programm und ihre Wahlkampfversprechen glauben durchsetzen zu können: mit Armin Laschet und Christian Lindner oder mit uns? Und die Linke hat ja auch in Hessen zweimal bewiesen, dass sie selbstverständlich Regierungsverantwortung übernehmen will.

hessenschau.de: Und ein Entgegenkommen ist, dass die Forderung nach einem Nato-Austritt in Ihrem Sofortprogramm nicht vorkommt?

Janine Wissler: Die Linke fordert doch gar nicht den Austritt Deutschlands aus der Nato - auch wenn andere das gerne behaupten. Die Forderung in unserem Programm ist, dass die Nato aufgelöst und durch ein kollektives Sicherheitsbündnis ersetzt werden sollte, das nicht auf Konfrontation und Aufrüstung, sondern auf Entspannungspolitik und Abrüstung setzt.

Wir lehnen das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ab, das bedeutet, dass Deutschland noch 25 Milliarden Euro mehr für Rüstung ausgeben soll. Und wir wollen Waffenexporte stoppen, auch an den Nato-Partner Türkei. Das Scheitern der Nato in Afghanistan hat gerade wieder gezeigt, warum es richtig ist, Kriegseinsätze abzulehnen.

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„Natürlich ist bei sieben Prozent noch eine ganze Menge Luft nach oben.“
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hessenschau.de: Sie würden als deutlich kleinster möglicher Koalitionspartner verhandeln müssen. Wieso kommt die Linke trotz Corona-Krise, Wohnungsnot, Afghanistan-Debakel und neuer Parteiführung mit Ihnen und Susanne Henning-Wellsow nicht über die sechs, sieben Prozent hinaus?

Janine Wissler: Dass wir den Parteitag wegen Corona zweimal verschieben mussten und den Parteivorstand erst ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl wählen konnten, hat vieles nicht einfacher gemacht. Susanne und ich kommen beide aus der Landespolitik. Sie hat mehrfach ihren Wahlkreis direkt gewonnen, ich war zweimal Spitzenkandidatin in Hessen. Aber wir hatten sehr wenig Zeit, bundesweit Bekanntheit aufzubauen. Natürlich ist bei sieben Prozent noch eine ganze Menge Luft nach oben.

hessenschau.de: Und wo wäre noch was zu holen?

Janine Wissler: Die Linke ist häufig dort am stärksten, wo die Wahlbeteiligung sehr gering ist. Das sind Stadtteile, wo wir vielleicht bei 25 Prozent und mehr liegen, viele Menschen aber wegen finanzieller Not und dem Gefühl, vergessen zu werden, das Vertrauen in die Politik verloren haben. Wir legen einen Fokus darauf, da von Haus zu Haus und auf die Marktplätze zu gehen, wo sich andere meistens nicht blicken lassen, um den Menschen klar zu machen: Wir müssen und können Gesellschaft verändern.

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Spitzenkandidaten-Interviews

hessenschau.de hat mit allen hessischen Spitzenkandidaten der sechs im Bundestag vertretenen Parteien gesprochen. Die Interviews erscheinen in loser Folge:


Das hr-fernsehen zeigt die Sendung "Wähl-Bar - Thekentalk zur Bundestagswahl" mit allen sechs Kandidatinnen und Kandidaten am 19. September um 20.15 Uhr sowie ab sofort in der ARD-Mediathek.

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hessenschau.de: Ist das nicht mit linker Wohnungspolitik gerade krachend gescheitert? Den Berliner Mietendeckel hat das Bundesverfassungsgericht kassiert.

Janine Wissler: Der rot-rot-grüne Senat in Berlin hat den Mietendeckel als einen Akt der Notwehr bezeichnet, weil die Mietpreise dort so dramatisch gestiegen sind. Wir sehen das auch in anderen Großstädten wie Frankfurt oder München. Es war deswegen richtig, zu versuchen, auf Landesebene alles auszuschöpfen, um Mieterinnen und Mieter zu schützen.

hessenschau.de: Nun haben Sie das Konzept für einen bundesweite Mietendeckel vorgelegt. Auch Frankfurt wäre demnach "Wohnungsnotgebiet", in dem die Stadt Mieten einfrieren und bezahlbare Mieten definieren darf. Sind Sie sicher, dass Sie damit diesmal rechtlich durchkommen?

Janine Wissler: Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich entschieden, dass es auf Landesebene keinen Mietendeckel geben darf. Wir sagen: Dann brauchen wir ihn jetzt erst recht bundesweit. Die Mietpreisbremse zeigt doch, dass es rechtlich zulässig ist, die Höhe der Mieten zu regulieren. Die Mietpreisbremse lässt allerdings zu viele Ausnahmen zu.

Im Grunde ist der Mietendeckel eine schärfere Mietpreisbremse, deshalb sind wir zuversichtlich, dass er umsetzbar ist, wenn der politische Willen da ist. Das ist aber nicht das einzige Instrument. Wir wollen auch den sozialen Wohnungsbau stärken und Spekulation mit Wohnungen und Boden bekämpfen.

hessenschau.de: Hessen ist ein Land der Pendler, viele Arbeitsplätze hängen an der Autobranche. Wie wollen Sie die Bedürfnisse dieser Menschen in Einklang mit ihrer Klimapolitik bringen? Die ist mit angestrebter Klimaneutralität ab 2035 ja noch ehrgeiziger als die der Grünen.

Janine Wissler: Wir verstehen die Sorgen, die sich viele machen. Aber wir müssen die Sache vom Ende her denken: Allein zur Abfederung der Folgen der Flutkatastrophe will die Bundesregierung in den kommenden Jahren 30 Milliarden Euro auszahlen. Das zeigt doch deutlich: Kein Klimaschutz ist teurer als Klimaschutz. Und Deutschland hat sich zurecht verpflichtet, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Deshalb brauchen wir unter anderem die Verkehrswende.

Natürlich kann man das nicht allein über den Preis regeln. Die Pflegekraft, die im ländlichen Raum lebt und im Schichtdienst arbeitet, muss weiterhin ins Auto steigen, um zum Job zukommen, solange weder Bus noch Bahn fährt. Die Verkehrswende ist auch eine soziale Frage wie der ökologische Umbau der Landwirtschaft oder die Energiewende mit dem notwendigen früheren Ausstieg aus der Braunkohle im Jahr 2030. Deshalb sieht unser Konzept einen gerechten, sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft vor.

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„Ich wüsste nicht, wer mit Lifestyle-Linke in unserer Partei gemeint sein sollte.“
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hessenschau.de: Ihr Mit-Vorsitzende Henning-Wellsow hatte vor kurzem einen gemeinsamen Auftritt mit Sahra Wagenknecht. Werden auch Sie sich noch mit Frau Wagenknecht im Wahlkampf zeigen?

Janine Wissler: Wir haben keinen gemeinsamen Wahlkampftermin. Das liegt aber einzig daran, dass wir uns die Termine aufteilen, um in möglichst viele Städte zu kommen.

hessenschau.de: Also nichts Persönliches? Es gab ja Forderungen nach einem Parteiausschluss.

Janine Wissler: Nein. Und den Parteiausschluss hat die zuständige Schiedskommission mittlerweile einstimmig abgelehnt. Das ist richtig und das hatte ich auch so erwartet.

hessenschau.de: Haben Sie dabei mit Frau Wagenknecht über ihr Buch gesprochen? Die These, die für Empörung gesorgt hat, lautet ja: Es gibt eine Lifestyle-Linke, die sich nicht mehr um die Leute kümmert, für die sie eigentlich Politik machen sollte.

Janine Wissler: Wir haben nicht intensiv über das Buch gesprochen. Ich wüsste aber auch nicht, wer mit Lifestyle-Linke innerhalb unserer Partei gemeint sein könnte und kann mit dem Begriff nicht viel anfangen. Ich nehme die Linke so wahr, dass sich viele Mitglieder wirklich aufopfern für linke Politik, und die allermeisten tun das ehrenamtlich.

Sie sind in Gewerkschaften aktiv oder vertreten uns nach Feierabend in den Kommunalparlamenten. Sie engagieren sich in der Hartz IV- oder der Mieterberatung, und viele sind in der Corona-Krise für Menschen einkaufen gegangen, die das nicht selbst konnten.

Das Interview führten Max Sprick und Wolfgang Türk.

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