Menschen halten Schilder mit den Köpfen und Namen der Opfer von Hanau hoch. Im Vordergrund ein Schild mit dem Schriftzug "Aufklärung".

Am 19. Februar 2020 erschoss ein Rassist in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund. Nun stritt der hessische Landtag über den verschobenen Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses. Dabei spielte ein ganz anderes Datum eine zentrale Rolle: der 8. Oktober 2023.

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Debatte um Aufklärung zum Anschlag in Hanau

hs
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Immer wieder hoben Abgeordnete den Kopf und schauten während ihrer Reden zur Zuschauertribüne hinauf, wo Überlebende, Angehörige von Opfern und ihre Unterstützer saßen.

Hatten einige der Politiker eine ganz andere, größere Zielgruppe im Auge? Das jedenfalls warfen sich die zwei konkurrierenden Lager in der Debatte gegenseitig vor.

Passender Zeitpunkt zum Streiten?

Die schwarz-grüne Koalition hier und die Oppositionsfraktionen von SPD und Linkspartei da: Sie stritten am Mittwoch im Landtag in Wiesbaden darüber, ob es gerade der passende Zeitpunkt zum Streiten ist. Und welches Lager ein furchtbares Attentat für wahltaktische Manöver missbraucht.

Denn in zweieinhalb Wochen, am 8. Oktober, sind Landtagswahlen. Nun, kurz zuvor, ging es auf getrennte Initiativen von SPD und Linken hin um die parlamentarische Aufarbeitung des rassistischen Attentats von Hanau. Die beiden Parteien sind erbittert, weil CDU und Grüne mit ihrer Mehrheit den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses auf die Zeit nach der Wahl verschoben haben.

Wahlkampf - aber von wem?

"Eignet sich ein solcher Moment für ein Wahlkampfspektakel", fragte Jörg Michael Müller, Obmann der CDU im Hanau-Ausschuss, nachdem er an die "kaltblütigen Morde" erinnert hatte. Die Antwort gab er gleich selbst: "Ich glaube nicht."

Mit dem Vorwurf, die Regierungsfraktionen hätten eine für sie unvorteilhafte Abschlussdebatte vor der Hessen-Wahl bewusst verhindert, drehte Heike Hofmann den Spieß um.

Das Vorgehen von Schwarz-Grün widerspreche nicht nur dem Wunsch von Opfern und Angehörigen, sagte die innenpolitische Sprecherin der SPD. "Damit täuschen Sie auch die Öffentlichkeit vor der Landtagswahl."

Bericht soll Fehler und Versäumnisse benennen

Im Januar 2020 hatte ein psychisch-kranker Rassist neun Menschen mit Migrationshintergrund, seine Mutter und sich selbst erschossen. Seit zwei Jahren geht ein Untersuchungsausschuss der Frage nach, was bei Polizei und zuständigen Behörden falsch gelaufen sein könnte.

Union und Grüne hatten im Hanau-Ausschuss durchgesetzt, dass der Abschlussbericht entgegen der ursprünglichen Pläne erst im Dezember abschließend im Landtag diskutiert wird. Es geht darum, welche Fehler und Versäumnisse von Polizei und Behörden es gab und was für die Politik daraus zu folgern ist.

Linke spricht von "Offenbarungseid"

Dabei wollen die Menschen nach Meinung der SPD-Politikerin Hofmann vor der Wahl wissen, welche Schlüsse die einzelnen Fraktionen aus dem Anschlag ziehen.

Auch Linken-Fraktionsvorsitzende Elisabeth Kula warf der Koalition ein "schäbiges Wahlmanöver" vor. Die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf zu erfahren, wo und wie die Polizei und andere Behörden versagt hätten und wie die Bilanz schwarz-grüner Innenpolitik aussehe.

Das Urteil von SPD und Linkspartei in der Sache war klar: Hofmann sprach von "großen Versäumnissen der Landesregierung". Dass Innenminister Peter Beuth (CDU) dafür keine politische Verantwortung übernommen habe und nun auch noch die Abschlussdebatte verschleppt worden sei, nannte Linken-Politikerin Kula einen "Offenbarungseid".

Notruf-Versäumnis unbestritten, aber ...

Neben einem unsensiblen Umgang mit den Angehörigen in der Tatnacht und danach führen Kritiker vor allem ein Versagen des Notrufs der Hanauer Polizei ins Feld.

Diese Fehler an sich sind nach einer zähen Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss weitgehend unstrittig. Aber die Meinung gehen auseinander, ob die Fehler fatal waren oder ohne Einfluss auf das Tatgeschehen.

Der Notruf soll personell unterbesetzt gewesen sein. In jedem Fall war er so veraltet, dass nicht angenommene Gespräche nicht automatisch weitergeleitet wurden.

Ohne diesen Mangel hätte laut SPD-Politikerin Hofmann eines der Opfer "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können". Denn Vili-Viorel Păun verfolgte den Täter seinerzeit und wurde von ihm erschossen. Vorher war er mehrmals per Handy nicht beim Notruf durchgekommen.

CDU an SPD und Linke: "Missbrauch unseres Mitleids"

Den Vorwurf einer taktisch motivierten Verzögerung der Abschlussdebatte wies der CDU-Abgeordnete Müller ebenso empört zurück wie Angriffe auf den Innenminister. SPD und Linke, missbrauchten vielmehr "unsere Mitleiden mit den Opfern und auch die Ohnmacht, manche Taten in diesem Land nicht verhindern zu können".

Gerade die Oppositionsfraktionen seien aufgrund diverser Manöver und neuer Beweisanträge schuld daran, dass der Abschlussbericht vor der Wahl gar nicht mehr habe fertig werden können.

Grüne nennen Beuth nicht mehr direkt

Vanessa Gronemann von den Grünen verteidigte ebenfalls, dass der Bericht nicht mehr vor der Wahl zum Thema wurde. Die Debatte zeige gerade, wie wichtig es sei, dafür "genügend Zeit und Raum außerhalb des Wahlkampfes" zu lassen.

Allerdings bedauerte auch die Grüne zum wiederholten Male öffentlich, dass es bisher keine "Entschuldigung von offizieller Seite gegenüber den Opferfamilien" gegeben habe.

Gronemann fasste dies aber ausdrücklich in eine "persönliche Bemerkung". Anders als bei ihrer jüngsten Kritik an Beuth nannte sie ihn diesmal als verantwortlichen Minister des Koalitionspartners CDU nicht.

FDP an Linke: "Das macht man nicht"

"Gravierende Versäumnisse" beim Notruf und dem Umgang mit Angehörigen machte auch FDP-Ausschuss-Obmann Jörg-Uwe Hahn aus. Beide Fehler hätten aber nichts mit dem "fürchterlichen Ausgang" der Tat zu tun.

Hahn fügte hinzu: "Ich halte wenig davon, aus einem solchen Vorgang parteipolitische Münze zu ziehen. Frau Kula, das macht man nicht."

AfD: "Unverfrorene Werbeveranstaltung" der SPD für Faeser

Ähnlich bewertete es Dirk Gaw, Obmann der AfD-Fraktion im Ausschuss. Er kritisierte als "unverfrorene Werbeveranstaltung" für Bundesinnenministerin Nancy Faeser, dass die SPD in der Debatte betonte, wie viel engagierter ihre Spitzenkandidatin gegen Rechtsextremismus kämpfe als Landesinnenminister Beuth.

Ziel muss laut Gaw ein weitgehend einvernehmlicher Abschlussbericht sein, der Fehler unvoreingenommen benennt und Konsequenzen aufzeigt.

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