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Wie Obdachlose wählen können

Volker sitzt auf einer Mauer.

Mehr als vier Millionen Menschen in Hessen dürfen am 8. Oktober den neuen Landtag wählen. Fast alle bekommen das per Wahlbenachrichtigung mitgeteilt. Was machen aber Menschen, die gar keinen Briefkasten für die offizielle Benachrichtigung haben?

Durch seinen dichten, grauen Bart sind seine Mundwinkel zwar nicht zu sehen, aber der 64-jährige Volker aus Darmstadt strahlt. Das verraten seine lachenden Augen. Denn er wird endlich wieder wählen – nach 30 Jahren.

So lange war Volker obdachlos. Sein Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen, hat in dieser Zeit nicht geklappt, sagt er. Im Wahllokal sei er "kurzerhand abgeschmettert" worden, "man sagte mir: Sie haben ja keine Wohnung, Sie leben nicht richtig hier".

Dabei hätte Volker das Recht gehabt zu wählen. Es gibt allerdings Hürden für Obdachlose, sagt Nicole Frölich von der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie Darmstadt-Dieburg. Wer auf der Straße lebt, hat keine feste Meldeadresse, bekommt also keine Wahlbenachrichtigung zugeschickt.

Personalausweis benötigt

Obdachlose müssen einen Antrag stellen, um in das Wählerverzeichnis aufgenommen zu werden. Dazu müssen sich die Leute ausweisen, sagt Frölich. "Das kann dann das nächste Problem sein, dass der Personalausweis verloren gegangen ist."

Nicole Frölich vor einem Bücherregal.

"Man wird nicht genügend informiert von den zuständigen Stellen", sagt Volker. "Da wird einem auch die Menschenwürde genommen. Als ob man ein Mensch dritter Klasse wäre. Aber, das bin ich nicht."

Auf der Straße überleben ist wichtiger als Wählen

Michaela Rohde vom Verein Soziale Hilfe in Kassel, wo schätzungsweise 200 obdachlose Menschen leben, hält es für schwierig, dass sie sich ohne Unterstützung um den Eintrag ins Wählerverzeichnis kümmern müssen. Denn viele Betroffene seien oft nicht in der Lage, eine Behörde aufzusuchen.

Sie hätten zudem auch andere Schwierigkeiten, als sich um eine Wahl zu kümmern. Priorität hätten eher Fragen wie: Wo bekomme ich mein Essen her? Wie ist das Wetter? Wo kann ich heute schlafen? Wie überlebe ich diesen Tag?

Deshalb informiert der Verein Soziale Hilfe Obdachlose auf der Straße in Kassel über ihr Wahlrecht und hilft ihnen vor der kommenden Landtagswahl, die Anträge auf Aufnahme in das Wählerverzeichnis auszufüllen.

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Wahlrecht für Menschen ohne festen Wohnsitz

Obdachlose sind wahlberechtigt, wenn sie sich seit mindestens sechs Wochen vor dem Wahltag in Hessen aufhalten. Das müssen sie schriftlich versichern. Wie alle anderen auch, müssen sie außerdem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und mindestens 18 Jahre alt sein.

Anders als wohnungslose Menschen, die eine Meldeadresse haben – zum Beispiel, weil sie in einer Notunterkunft untergebracht sind – erhalten Obdachlose keine Wahlbenachrichtigung per Post. Sie müssen aktiv werden und einen Antrag auf Aufnahme ins Wählerverzeichnis stellen.

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"Wir begleiten, aber überreden nicht"

In Frankfurt leben zwischen 200 und 300 obdachlose Menschen. Die Stadt möchte die Wahlberechtigten unter ihnen bei einer Infoveranstaltung aufklären. Sozialdezernentin Elke Voitl betont aber: "Wir begleiten, wir klären auf. Wir überzeugen und überreden aber nicht."

Es gebe viele obdachlose Menschen, die ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen wollten. Sie sollen auch die Möglichkeit und Hilfe bekommen, ihre Stimme abzugeben, sagt Voitl. Sie wünsche sich, dass viele obdachlose Menschen die Gelegenheit nutzen und wählen gehen. "Damit sie auf diesem Wege zumindest ein Stück weit mitgestalten, was in Hessen passiert."

Zeitungen schnell am Kiosk durchblättern

Arab aus Darmstadt will am 8. Oktober sein Kreuz auf dem Wahlzettel machen. Seit über 10 Jahren lebt er auf der Straße. "Ich muss wählen. Ich muss meine Meinung ja auch vertreten."

Arab steht vor einem Fenster.

Wichtig seien ihm die Themen Gesundheit, Meinungsfreiheit und dass jeder seine eigene Wohnung hat, sagt der 51-Jährige. Über die zur Wahl stehenden Parteien informiert sich Arab in Zeitungen, die er schnell am Kiosk durchblättert und über Nachrichtensender, die auf Fernsehbildschirmen laufen – zum Beispiel in Geschäften am Darmstädter Hauptbahnhof.

"Ich muss mir nicht mehr minderwertig vorkommen"

Informationen zur Landtagswahl können obdachlose Menschen auch bei der Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie Darmstadt-Dieburg bekommen, sagt Nicole Frölich – durch Aushänge, bei Informationsveranstaltungen oder in Einzelgesprächen.

Der ehemalige Obdachlose Volker liest die Wahlprogramme der Parteien am PC in der Darmstädter Fachberatungsstelle "Teestube Konkret" der Diakonie. Ihm sei es wichtig, auch mit den Kandidatinnen und Kandidaten persönlich zu sprechen und Fragen zu stellen – zum Beispiel, was sie gegen Wohnungsnot machen.

Zwei Computer stehen auf einem Schreibtisch.

Nach 30 Jahren auf der Straße lebt Volker nun seit ein paar Monaten in einer Seniorenwohnanlage in Darmstadt, bekommt seine Wahlbenachrichtigung per Post. Der 64-Jährige freut sich darauf, sein Kreuz bei der Landtagswahl machen zu können: "Ich bin stolz, endlich wieder genauso behandelt zu werden, wie alle anderen Menschen, was meine Grundrechte angeht. Ich muss mir nicht mehr minderwertig vorkommen."

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