Wer wählen geht, erlebt Demokratie. Das soll allen Menschen gleichermaßen möglich sein. Trotzdem stoßen Menschen mit Behinderung in Hessen auf viele Hürden beim Wählen - nicht nur im Wahllokal.

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Wie barrierefrei ist die Landtagswahl in Hessen?

Rollstuhl mit Person in Nahaufnahme an einem Treppenabsatz - von unten fotografiert.
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Bernd Gökeler weiß vor jeder Wahl: Er schafft es nicht ins Wahllokal. Der 55-Jährige wohnt in Ebsdorfergrund (Marburg-Biedenkopf) und sitzt im Rollstuhl. Doch seine Wohnung liegt an einem Hang, das ihm zugewiesene Wahllokal sei für ihn daher unmöglich zu erreichen, sagt er: "Der Berg auf dem Weg zum Wahllokal ist zu steil."

Zwar gebe es Bürgerhilfen, die mit Unterstützung von Kreis und Kommune Fahrdienste ins Wahllokal organisierten, berichtet Gökeler. Doch oft seien die Fahrzeuge nicht rollstuhlgerecht. "Man muss also einen privaten Fahrdienst beauftragen, und der kostet zwischen 75 und 80 Euro. Da wird die Wahl zu einem teuren Erlebnis." Für Gökeler und andere, die am Berg scheitern, heißt die Lösung daher: Briefwahl.

Bernd Gökeler, Geschäftsführer des Netzwerks für Teilhabe und Beratung in Marburg.

Gemeinschaft der Wahlberechtigten erleben

Eigentlich sollen Städte und Gemeinden in Hessen alle Wahlräume so auswählen und gestalten, dass sie barrierefrei sind. Das bestätigt die Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderungen, Rika Esser. Schließlich ist Wählen ein Grundrecht. In der Praxis gibt es immer noch viele Hürden, auch bei der Hessen-Wahl 2023.

Die Briefwahl betrachtet Esser als Notlösung: "Die Gemeinschaft der Wahlberechtigten am Wahltag erleben zu können und am Wahlgeschehen in und um das eigene Wahllokal teilnehmen zu können, sehe ich als wichtige Erfahrung aller Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Landes." Diese Erfahrung müssten Menschen mit Behinderungen genauso machen können wie Menschen ohne Behinderungen.

Bei der hessischen Landtagswahl 2018 lag die Briefwahl-Quote bei rund 24 Prozent. Während der Corona-Zeit haben sich noch viel mehr Menschen dafür entschieden, so ihre Stimme abzugeben. Die einen sicherlich, weil es bequem ist. Andere, wie Bernd Gökeler, aus Notwendigkeit.

Portrait der Landesbehindertenbeauftragten Rika Esser

Etliche Wahlräume in großen Städten nicht ohne Hürden

Wählen im Wahllokal heißt auch: präsent sein und als Wählerin oder Wähler sichtbar. Doch genau das klappt für Menschen mit Behinderung in einigen Orten im Land nicht. Die zehn größten hessischen Städte haben auf der Online-Plattform Votemanager 1.186 Wahlräume für die Landtagswahl angemeldet. 143 davon sind als nicht barrierefrei gekennzeichnet, rund zwölf Prozent.

Wer einen dieser Wahlräume mit Barrieren zugeteilt bekommt, muss sich bei Bedarf selbst um eine nahegelegene barrierefreie Alternative kümmern. Wo diese am eigenen Wohnort liegt, steht unter anderem bei Votemanager.

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Nach Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Hessen dürften allein durch bauliche Gegebenheiten nur die wenigsten Wahllokale komplett barrierefrei sein. Der Verband weist darauf hin, "dass vollständige Barrierefreiheit kaum zu schaffen ist". Ein realistisches Ziel sei eine Reduzierung von Barrieren.

Entscheidung auch über Barrierefreiheit

Carina Kühne aus Seeheim-Jugenheim (Darmstadt-Dieburg) sagt, sie sei seit ihrem 18. Geburtstag immer wählen gegangen. Nur wer wähle, entscheide mit, wer ins Parlament einzieht und die Gesetze macht, "die uns alle angehen", sagt die 38 Jahre alte Schauspielerin und Aktivistin für Menschen mit Behinderung.

Kühne selbst lebt mit Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt. "Die Abgeordneten entscheiden auch, wie viel Geld zum Beispiel für Bildung oder Barrierefreiheit ausgegeben wird", betont sie.

Portrait Carina Kühne

Wie viele Hessinnen und Hessen beim Wählen auf Barrieren stoßen, lässt sich übrigens kaum beziffern. Weder der Landeswahlleiter noch das Sozialministerium oder das Statistische Landesamt erfassen, wie viele Wahlberechtigte mit Behinderung es in Hessen gibt. Das teilten sie auf hr-Anfrage mit.

Blind in der Wahlkabine

Den einen versperrt ein steiler Berg den Weg zum Wahllokal, andere stoßen dann dort auf Hindernisse. Andreas Enzmann vom Vorstand der Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte nennt als Beispiel: "Nehmen Sie nur mal den Stift, der in der Kabine liegt. Mal ist er angebunden, mal nicht - und dann finden Sie mal diesen Stift." Menschen mit wenig Augenlicht bekämen schon bei schlechter Beleuchtung ein Problem.

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Was heißt barrierefrei?

Barrierefrei sind Gebäude und Anlagen, wenn sie für Menschen mit Behinderungen "in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind und über die Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit verständlich informiert wird". So legt es das hessische Behinderten-Gleichstellungsgesetz fest.

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Besonders komme es auf die Wahlhelferinnen und -helfer an, findet Enzmann. Oft müssten Menschen, die nichts oder wenig sehen, auf dem Weg durchs Wahllokal geführt werden. Die Helfer dürften dann keine Berührungsängste haben.

Wahlhelferinnen und -helfer bekommen in Hessen eine Unterweisung, in der auch die Unterstützung von Menschen mit Behinderung Thema ist. Ganz selbstständig zu wählen bleibe für Menschen mit Behinderung im Wahllokal dennoch schwierig, sagt Andreas Enzmann: "Ich empfehle immer, Briefwahl zu machen." Wichtig sei doch, "dass die Menschen von ihrem Wahlrecht überhaupt Gebrauch machen".

Für einen Teil der Menschen mit Behinderung war wählen tatsächlich lange gar nicht möglich: Wer eine rechtliche Betreuungsperson hat, war bis 2019 vom Wahlrecht ausgeschlossen. Erst dann kippte das Bundesverfassungsgericht diese Regel. Am 8. Oktober dürfen tausende betreute Hessinnen und Hessen erstmals bei einer Landtagswahl ihre Stimme abgeben.

Informationen zur Wahl in Leichter Sprache

Die Barrieren beim Wählen beginnen freilich nicht erst am Wahlabend im Wahllokal. Wer wählen will, sollte sich zuvor eine Meinung bilden. Deshalb schaut Aktivistin Carina Kühne täglich Nachrichten, wie sie sagt. Außerdem lese sie Wahlprogramme in Leichter Sprache. "Dabei achte ich besonders darauf, wie Parteien Inklusion umsetzen wollen und was sie für Menschen mit Behinderung machen wollen."

Zur diesjährigen Landtagswahl in Hessen bieten die Grünen, die SPD und die Linke ihre Wahlprogramme auch in Leichter Sprache an. Die FDP hat einige wenige Punkte in einfacher und knapper gefasste Sätze übertragen lassen, CDU und AfD verzichten ganz darauf.

Zur Landtagswahl haben Rika Esser und der Landeswahlleiter eine Wahl-Broschüre in Leichter Sprache herausgegeben. Außerdem gibt es ein FAQ zur Hessen-Wahl in Leichter Sprache vom hr.

Bernd Gökeler, der auch Geschäftsführer des Netzwerks für Teilhabe und Beratung ist, wünscht sich Angebote, mit denen sich Menschen mit Beeinträchtigung auch außerhalb von Wahlkampfzeiten auf dem Laufenden halten können: "Die Presseämter müssten barrierefrei berichten, damit ich auch mitkriege, was ein Politiker bisher gemacht hat - und nicht nur, was er jetzt verspricht."

Landtag baut seine Homepage um

Auch der Paritätische findet, dass es Partei-Homepages an einigem mangelt: Informationen in Leichter Sprache? Fehlanzeige, kritisiert der Verband. Gebärden-Videos? Nicht vorhanden. Schriftgröße ändern? Unmöglich.

Immerhin: Der Internetauftritt des Landtags wird derzeit umgestaltet, um eine EU-Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu den Websites öffentlicher Stellen zu erfüllen. Dort finden sich bereits Inhalte in Leichter Sprache und Gebärden-Videos. Allerdings auch eine Liste mit 13 Barrieren, die noch nicht beseitigt sind.

Kaum sichtbar: Politiker mit Behinderung

Und selbst Politik machen? Ist mit Behinderung leichter gesagt als getan. Wie viele Abgeordnete mit Behinderung im Landtag in Wiesbaden sitzen, weiß noch nicht einmal die Beauftragte der Landesregierung für Menschen mit Behinderungen genau. Ihr seien nur einzelne Abgeordnete bekannt, teilt Rika Esser mit.

Insgesamt dürften es nur sehr wenige sein, glaubt Bernd Gökeler: "Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist immer noch groß." Zu den emotionalen Hürden, in die Politik zu gehen, kämen physische hinzu. "Hier in Marburg gibt es meines Wissens keine Parteizentrale, die barrierefrei ist", sagt Gökeler.

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