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Darmstadts Superblock fällt Sparmaßnahmen zum Opfer

Visualisierung der Idee: In der Straße zwischen Wohnhäusern sind viele Menschen und Pflanzen - und keine Autos - zu sehen.

Noch vor der Umsetzung ist Hessens erstes umfassend verkehrsberuhigtes Viertel schon Geschichte. Aus finanziellen Gründen streicht Darmstadt den geplanten Superblock auf ein Minimum zusammen. Dabei gab es für die Vision eine breite Mehrheit.

Mit Stolz verkündete die Stadt Darmstadt vor eineinhalb Jahren die Pläne zu Hessens erstem Superblock. Es sollte ein Vorzeigeprojekt mit überregionaler Strahlkraft werden - ein autoarmes Wohnquartier mit mehr Flächengerechtigkeit und Lebensqualität.

Doch schon die Ausarbeitung der konkreten Umsetzung fiel deutlich weniger ambitioniert aus. Jetzt steht der Verkehrsversuch im sogenannten Lichtenbergblock, gemessen an der ursprünglichen Vision, sogar komplett vor dem Aus.  

Großes Loch im Haushalt

"Das Projekt wurde gestoppt", sagte Mobilitätsdezernent Paul Wandrey (CDU) dem hr am Dienstag. Angesichts der "schwierigen Haushaltslage" und des noch nicht genehmigten Haushalts sei die Stadt zu diesem Schritt gezwungen gewesen.

Tatsächlich steht Darmstadt finanziell derzeit auf wackeligen Füßen. In der Kasse klafft ein 100 Millionen Euro großes Loch, die Stadt muss an allen Ecken und Enden sparen. Wie so vielen anderen Kommunen droht Darmstadt durch das geplante Wachstumschancengesetz ein massiver Verlust an Gewerbesteuereinnahmen.

Zwei von drei Projektphasen gestrichen

Ganz einstampfen will Wandrey den Verkehrsversuch, der in der Stadtverordnetenversammlung bereits einstimmig beschlossen und durch den Haupt- und Finanzausschuss für gut befunden wurde, allerdings nicht.

In der bisherigen Form sollte der Versuch in drei aufeinanderfolgenden Phasen erfolgen. Phase eins beinhaltete demnach in einigen Straßen eine neue Verkehrsführung, das Verbot von Gehwegparken und die Umwandlung in Spielstraßen. In den Phasen zwei und drei sollte das Konzept ausgeweitet und auf weitere Straßen angewendet werden.

Grafische Darstellung der geplanten Maßnahmen in Darmstadts Lichtenbergblock

Phase eins möchte Wandrey "möglichst wie vorgestellt umzusetzen". Zu Phase zwei oder gar zu Phase drei wird es aber nicht kommen. Zudem soll der Versuch auch nicht wie geplant wissenschaftlich begleitet werden. "Das spart uns 50.000 Euro", rechnet Wandrey vor. Die Kosten für die weiterführenden Phasen hätten "im gut sechsstelligen Bereich" gelegen.

Der Startschuss für Phase eins wird zudem deutlich später fallen als geplant. Ursprünglich sollte es im Frühjahr 2024 losgehen. Doch die Magistratsvorlage, die für den 19. Dezember auf der Tagesordnung stand, wurde mittlerweile zurückgezogen und soll laut Wandrey neu ausgearbeitet werden. Das kann dauern. Ein Start vor dem zweiten Halbjahr 2024 ist damit unrealistisch.

Sukzessiver Niedergang

Um den sukzessiven Niedergang des Superblock-Projekts nachvollziehen zu können, lohnt sich ein Blick auf die Genese. Im Sommer 2022 dachte die Stadt - damals noch in Person des Mobilitätsdezernenten Michael Kolmer (Grüne) - erstmals laut über einen Superblock nach dem Vorbild Barcelonas nach.

Kolmer nannte es "autoarmes Bestandsquartier". Sein formuliertes Ziel: "In dem Quartier soll nur noch der absolut notwendige Autoverkehr stattfinden." Der Verkehrsversuch sollte nach seinen Vorstellungen möglichst ein Vorbild für andere Städte sein und zur Nachahmung animieren.

Im Herbst dieses Jahres - Kolmer hatte im Frühjahr die OB-Wahl verloren - stellte der neue Mobilitätsdezernent Wandrey dann der Öffentlichkeit nach ausführlicher Bürgerbefragung das vermeintlich finale Superblock-Konzept vor. Schon diese Version war gegenüber Kolmers Vision deutlich abgespeckt, bildete aber einen breiten Konsens ab und fand Zustimmung in der Bevölkerung.

Von der Vision ist nichts mehr übrig

Durch das erneute Zusammenstreichen ist die Vision von Hessens erstem Superblock in Darmstadt endgültig tot und begraben. Außer einigen verkehrsberuhigenden Maßnahmen und einer leichten Verbesserung des Parkplatz-Chaos bleibt nichts übrig. Und selbst diese Minimalmaßnahmen müssen erst einmal umgesetzt werden.

Das sorgt vor allem bei jenen, die jahrelang für die Umsetzung des Verkehrsversuchs gekämpft haben, für große Enttäuschung. Johannes Rümmelein von der Bürgerinitiative Heinerblocks, die maßgeblich an der Konzeption des Superblocks beteiligt war, kann die Entscheidung der Stadt aus mehreren Gründen nicht nachvollziehen.

Einerseits sei es "extrem bitter", dass die geplanten Maßnahmen verschoben oder gar nicht umgesetzt würden. "Damit entfernt sich der Verkehrsversuch immer weiter von seinem eigentlichen Ziel, nämlich in dem Wohngebiet mehr Flächengerechtigkeit, Sicherheit und Lebensqualität zu schaffen", sagt Rümmelein.

In dieser Phase der Planung nun am Geld zu sparen, kann der Aktivist nicht nachvollziehen: "Wenn man schon so viel Geld und Arbeit in Planung und Bürgerbeteiligung gesteckt hat, ist es schwer zu verstehen, dass man nun, überspitzt gesagt, an ein paar Pollern spart."

Bürgerinitiative: Stadt verspielt Vertrauen

Darüber hinaus gehe es um Vertrauen und Erwartungen. Durch die zahlreichen Bürgerforen und die Bürgerbeteiligung am Verkehrsversuch habe die Stadt das Vertrauen der Menschen gewonnen und Erwartungen geweckt, erinnert Rümmelein: "Aber jetzt verspielt die Stadt dieses Vertrauen, enttäuscht Erwartungen und verprellt die Bürgerinnen und Bürger."

Derzeit prüft die Stadt, ob es sich in der nun geplanten Form überhaupt noch um einen Verkehrsversuch handelt oder nicht einfach nur um eine "verkehrliche Anpassung", wie Wandrey sagt.

Wie auch immer man das Projekt im Lichtenbergblock künftig nennen mag: Ein Vorbild für andere Städte dürfte es nicht mehr sein.

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Vorbild Barcelona

In den Superblocks in Barcelona werden bis zu neun bestehende Häuserblocks zusammengefasst. Innerhalb der Blocks haben Fuß- und Radverkehr Vorrang. Bei zweispurigen Straßen entfällt eine Fahrspur für Autos zugunsten von Spielgelegenheiten, Gastronomie oder Parkbänke. Hochbeete, Blumenkübel und Bäume sorgen für mehr Grün. Autos dürfen dort höchstens mit Tempo 20 fahren.
Insgesamt sollen 503 Superblocks entstehen. Nach Angaben der Stadt würden somit 60 Prozent der zuvor von Autos genutzten Straßen frei.

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