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Neues Mobilitätskonzept für Marburg

Blick auf die Oberstadt in Marburg mit Radfahrer

Marburg diskutiert seit Jahren über die Verkehrsproblematik. Statt auf Großprojekte wie Seilbahn oder Straßenbahn setzt das neue Konzept "MoVe 35" auf viele kleine Maßnahmen - passend zur engen Stadt. Autofahren wird in Marburg damit unbequemer.

Es ist einer der Lieblingssätze des Oberbürgermeisters: "Marburg ist eine kleine Stadt zwischen zwei hohen Bergen." Grundsätzlich hat Thomas Spies (SPD) damit recht: Die malerische Kernstadt liegt in der Lahntalsenke, umgeben von zwei Mittelgebirgszügen.

Allerdings gehört zur Wahrheit auch: In dieser "inneren Kernstadt" leben nur etwa 45.000 der 77.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Neben der beschaulichen Innenstadt gehören zu Marburg auch Gewerbegebiete wie der Pharmapark im Norden, die Hochhaussiedlung Richtsberg, das Uniklinikum auf den Lahnbergen und viele kleine Außenstadtteile wie Dagobertshausen oder Bortshausen.

Dazu kommt: Im Einzugsgebiet leben rund 240.000 Menschen. Und viele haben regelmäßig ein Ziel: rein in die Stadt, die meisten mit dem Auto. Seit Jahren ist der Verkehr ein Problem in Marburg. Die Innenstadt ist eng – Busse, Fahrräder und Autos schlängeln sich Tag für Tag aneinander vorbei. Hinzu kommen noch die Höhenunterschiede und die Stadtautobahn, die mitten durchs Tal rauscht.

Viel diskutiert: Tunnel, Tram, Tieferlegung

Im Raum standen in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche bauliche Großprojekte, um den Verkehr zu entlasten: eine Seilbahn zu den Lahnbergen oder eine zum Schloss, ein Tunnel zum Pharmastandort, eine Tram mitten durch die Stadt, eine Westumfahrung oder eine Tieferlegung der Stadtautobahn. Irgendwann hatte ein Professor sogar mal eine U-Bahn vorgeschlagen. Aber nichts davon schaffte es bisher auch nur in die Nähe einer konkreten Umsetzung.

Autobahn und Blick aufs Schloss

Einig ist man sich in Marburg aber darüber: Es muss etwas passieren. Hinzu kommt inzwischen noch: Die Stadt hat sich hohe Ziele für den Klimaschutz gesetzt, bis 2030 will Marburg klimaneutral werden. Das geht nur, wenn der Autoverkehr spürbar reduziert wird.

Verkehrskonzept mit umfassender Bürgerbeteiligung

Vor drei Jahren beschloss die Stadt, ein umfassendes Mobilitäts- und Verkehrskonzept für das Jahr 2035 erstellen zu lassen, inklusive einer breiten Bürgerbeteiligung. Rund 3.500 Menschen füllten für das "MoVe 35" Online-Fragebögen aus, eine vierzigköpfige Arbeitsgruppe aus Interessenvertretern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern begleitete den Prozess.

Der Endbericht des beauftragten Planungsbüros steht nun kurz vor der Veröffentlichung, in der vorläufigen Fassung liegt er dem hr bereits vor.

Ziel: Nur noch halb so viele Wege mit dem Auto

Auf den rund 250 Seiten wird zunächst der Ist-Zustand analysiert: Rund 40 Prozent aller Wege in Marburg werden derzeit mit dem "motorisierten Individualverkehr" zurückgelegt, 15 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln, 11 Prozent mit dem Fahrrad, der Rest zu Fuß.

Dann werden die Ziele dargestellt, abgeleitet aus dem Bürgerbeteiligungsprozess und den bereits beschlossen Klimazielen der Stadt. Die Kernaussage: Das Konzept will eine umfassende Mobilitätswende voranbringen. Der Anteil an mit dem Auto zurückgelegten Wegen soll bis 2035 halbiert, die Bedingungen für Rad- und Fußverkehr verbessert, die Erreichbarkeit mit dem ÖPNV erhöht werden. Und all das unter der Prämisse von mehr Sicherheit und Barrierefreiheit.

Viele kleine Maßnahmen

Statt des einen großen Wurfs schlägt "MoVe 35" zahlreiche kleine Maßnahmen vor und spielt in unterschiedlichen Szenarien die Effekte durch. Neu ist: Berücksichtigt werden dabei alle Verkehrsarten im Zusammenspiel miteinander, auch der Fußverkehr. Bereits bestehende Einzelkonzepte in Marburg etwa für den Radverkehr sollen integriert werden.

Junge Radfahrerin mit einem Rucksack, von hinten fotografiert, die auf einem Radweg in einer Geschäftsstraße fährt.

Konkret schlägt "MoVe 35" zum Beispiel vor: Es soll mehr Fahrradstraßen und verbreiterte Fußwege geben. Teilweise soll auch das Autofahren gezielt unbequemer werden, zum Beispiel im Südviertel. Dort könnte eine neue Einbahnstraßenregelung in Zukunft das Durchfahren verkomplizieren. Die Innenstadt soll laut Konzept zwar grundsätzlich weiter mit dem Auto erreichbar bleiben, aber es soll weniger Platz für Autos geben.

Auch für den öffentlichen Nahverkehr gibt es Vorschläge, etwa ein verändertes Liniennetz für Schnellbusse, einen neuen Bahnhaltepunkt "Marburg Mitte" und das Ziel, alle Stadtteile im 30-Minuten-Takt an die Kernstadt anzubinden.

Auch Großprojekte neu bewertet

Auch einige der in den vergangenen Jahren besonders viel diskutierten baulichen Maßnahmen wurden neu geprüft und bewertet, darunter der "Behringtunnel" und die "Westtangente". Das Ergebnis: Beides wäre zwar machbar, würde aber primär den Pkw-Verkehr verbessern, und damit das Auto noch attraktiver machen.

Weil das Konzept das im Widerspruch zum "grundsätzlichen Ziel der Stadtgesellschaft und des MoVe 35" sieht, wird grundsätzlich davon abgeraten. Der Idee einer Seilbahn und der einer Tram erteilt "MoVe 35" dagegen keine Komplettabsage für die Zukunft – wenn auch auf die langen Planungszeiten und das Konfliktpotential hingewiesen wird.

Mehr Zuspruch gibt es im Vergleich damit für den aktuell favorisierten Ansatz der Stadt, den innerstädtischen Busverkehr mit Oberleitungen und Batterien zu elektrifizieren. Das Projekt, kurz BOB genannt, sei baulich weniger invasiv und schneller umsetzbar – zudem gebe es bereits Fördergeldzusagen dafür.

AG-Teilnehmerin: "Es wird sich vieles verbessern"

Sara Müller von der "Bürgerinitiative Verkehrswende Marburg" war Teil der Arbeitsgruppe, die das Projekt begleitet hat. Sie meint: Wenn die Vorschläge aus dem Konzept tatsächlich umgesetzt werden, werde sich für den Verkehr in Marburg vieles verbessern.

Frau

"Wir denken aber, dass es an einigen Stellen in Bezug auf den Radverkehr zu Problemen kommen wird, weil einige Punkte noch nicht so geplant sind, dass sie wirklich umsetzbar wären." Den anvisierten 30-Minuten-Takt im ÖPNV hält Müller außerdem für zu wenig, um wirklich attraktiv zu sein.

Verkehrsexperte: "Papier ist geduldig"

Der Verkehrsexperte und emeritierte Professor Heiner Monheim aus Trier beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation in Marburg. Er hält hat das Konzept für sehr ambitioniert, die Bürgerbeteiligung sei in dieser umfassenden Form "originell" gewesen.

Als Schulnote würde Monheim dem "MoVe 35" eine 2 minus geben – das sei deutlich besser als das, was derzeit viele andere Städte für ihre Verkehrsplanung bekommen würden. Trotzdem fehlt ihm ein entscheidender Faktor: Die Auseinandersetzung mit der Stadtautobahn, dieses Problem sei weiter "unbewältigt". Außerdem greife das Konzept seiner Ansicht nach die außerhalb der Kernstadt gelegenen Ortsteile noch zu wenig auf.

Zudem fehle die Auseinandersetzung mit der konkreten Umsetzung, zum Beispiel die "Mengenangabe", sagt Monheim: Wie viele Fahrradstraßen und Querungshilfen brauche es wirklich? Wie und wo bekomme man das zeitnah umgesetzt? "So schön das Papier ist – am Ende ist es doch sehr geduldig."

OB Spies ist zuversichtlich

Marburgs Oberbürgermeister Spies zeigt sich jedenfalls zuversichtlich, dass man vieles davon "wird machen können", wie er sagt. Spies lobt: Das Konzept denke systematisch alle Formen von Mobilität und alle Herausforderungen zusammen und basiere auf den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger. "Es wird aber sicherlich nicht 2035 alles haargenau so umgesetzt sein, das muss immer ein lebendiger Prozess sein."

Spies betont: Die Verwaltung werde finanzielle und personelle Kapazitäten für die Umsetzung bereitstellen, man habe schon erste Stellen dafür geschaffen, suche allerdings noch Fachkräfte. Sicher ist sich der Oberbürgermeister aber auch: Das Ende von Verkehrs- und Mobilitätsdiskussionen in Marburg wird auch das nicht sein. "Da kenne ich die Stadt anders", sagt er.

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