Paulskirche Frankfurt Friedenspreis an Anne Applebaum verliehen

Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse hat die US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Die Redner bezogen klare Position zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Preisverleihung
Anne Applebaum (links) erhält von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024. Bild © picture-alliance/dpa

Für Anne Applebaum gibt es einen genauen Zeitpunkt, an dem die Hoffnungen auf ein demokratisches Russland zusammenbrachen. Es sei derselbe Moment gewesen, ab dem auch die Arbeit an russischer Geschichtsschreibung für Historiker wieder gefährlich geworden sei.

Dieser Moment sei der Morgen des 20. Februar 2014 gewesen, "als russische Truppen illegal über die Halbinsel Krim marschierten", sagte Applebaum am Sonntag in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche.

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"Ich war 2014 nicht verwirrt"

Der Morgen des 20. Februar "war der Moment, in dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallten, in dem die Vergangenheit einmal mehr zur Blaupause für die Gegenwart wurde." Als sie in den 1990er Jahren die Geschichte der sowjetischen Gulags und sowjetischer Überfälle in den Archiven recherchiert habe, habe sie noch angenommen, dass diese Geschichte der fernen Vergangenheit angehörte.

Doch 2014 seien "alte Pläne aus denselben sowjetischen Archiven hervorgeholt, entstaubt und wieder verwendet" worden. So seien an diesem Februartag nicht gekennzeichnete russische Fahrzeuge über die Halbinsel gefahren, Soldaten hätten Uniformen ohne Abzeichen getragen. Viele Kommentatoren im Westen seien deshalb verwirrt gewesen, bezeichneten diese Menschen als Separatisten. "Ich war nicht verwirrt", sagte Applebaum.

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Die Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels seit 2013

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"Muster wiederholen sich"

Diese Invasion sei genauso abgelaufen wie die Invasion in Polen im Jahr 1944. Diese sei eine Blaupause gewesen. Inzwischen wiederholten sich auch andere Muster: Grausamkeiten an Zivilisten, Folterkammern, Vergewaltigungen, Entmenschlichung.

Im Jahr 2014 sei Russland bereits auf dem Weg zu einer totalitären Gesellschaft gewesen, danach habe sich dieser Prozess nur beschleunigt. Seit 2018 seien mehr als 116.000 Russen bestraft worden, weil sie ihre Meinung sagten, so Applebaum.

"Verhindern, dass Russen autokratisches System ausbreiten"

Zu Beginn des Krieges habe es überwiegend Unterstützung für die Ukraine gegeben. Inzwischen sei vielfach Zweifel eingekehrt, der Ruf nach Pazifismus werde laut. Ihr sei wichtig zu betonen, dass "die Forderung nach Pazifismus angesichts einer aggressiven, fortschreitenden Diktatur lediglich eine Beschwichtigung und Akzeptanz dieser Diktatur darstellen kann", sagte Applebaum.

Vielmehr müsse nun verhindert werden, "dass die Russen ihr autokratisches politisches System weiter ausbreiten", betonte sie und forderte erneut Waffenlieferungen an die Ukraine. Für Deutsche sei es ungewohnt, wenn sie gebeten werden, Waffen zu liefern.

"Deutsche haben besondere Verantwortung"

"Doch das ist die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte", sagte Applebaum: "Nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen."

Den Ukrainern müsse zum Sieg verholfen werden, "und zwar nicht nur um der Ukraine willen", und das nicht nur militärisch, sondern auch ideologisch, indem Demokraten ihre Werte verteidigten.

Scherbakowa: "Halte diese Rede für die Ukraine"

Die Laudatio hielt die Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa, Mitbegründerin der heute in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation "Memorial". "Ich halte diese Rede in sehr schweren Tagen für die Ukraine, die auch wegen der mangelnden Unterstützung und Entschlossenheit des Westens, Putin entgegenzutreten, und der ständigen Hoffnung, man könne mit ihm Frieden schließen und alles werde wie früher sein", sagte sie.

Sie beschrieb ihr erstes Treffen mit Applebaum im Jahr 2000, in einer Zeit, als die geheimen Archive noch geöffnet waren und es möglich war, sich mit sowjetischem Staatsterror und Menschenrechtsverletzungen zu befassen, wie es Applebaum auch für ihr Buch "Der Gulag" tat.

Rednerin an einem Pult
Die Laudatio hielt die russische Historikerin Irina Scherbakowa. Bild © hr

Putins Machtantritt Wendepunkt in der Geschichte

Gleichzeitig sei dieses Jahr, das Jahr von Putins Machtantritt, ein Wendepunkt in der Geschichte Russlands gewesen, denn seither sei der Widerwille gestiegen, die Vergangenheit aufzuklären. Stattdessen hätten Nostalgie und der Wunsch nach alter Stärke zugenommen und seien von Putin instrumentalisiert worden.

Vor diesem Hintergrund seien Applebaums Bücher immens wichtig, denn sie seien sowohl aufklärend als auch vorausschauend. "Sie zeichnen nach, wie Russlands nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Sowjetimperium (spürbar im "Eisernen Vorhang") beginnt und in dem blutigen, krampfhaften Versuch gipfelt, dieses Imperium durch den Angriff auf die Ukraine zurückzuerobern", sagte Scherbakowa.

Bücher bieten "nüchterne Sicht auf russische Geschichte"

Applebaums Bücher böten eine "nüchterne, unsentimentale und illusionslose Sicht auf die russische Geschichte und auf das Putin-Regime". Sie zeigten, wie in der Sowjetunion ausgebildete Politiker dieselben Mittel wie in Sowjetzeiten wieder einsetzten. Die Bücher hätten auch westlichen Politikern schon früh zeigen können, "was Putins Politik ist, dass eine verstärkte Repression im Inneren des Landes unweigerlich zu einer Aggression nach außen führen würde".

Doch die Illusion eines Friedens mit Putin habe selbst nach Annexion der Krim weitergelebt – auch wegen wirtschaftlicher Interessen. Und so bleibe Applebaums Rolle weiter wichtig, "als Historikerin und öffentliche Intellektuelle sicherzustellen, dass die feine Linie, die Wahrheit von Lüge in der Vergangenheit und der Gegenwart trennt, bestehen bleibt."

Börsenverein: Nicht nur positive Reaktionen

Die Verleihung des Friedenspreises an Anne Applebaum habe nicht nur positive Reaktionen hervorgerufen, sagte Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in ihrem Grußwort.

Schmidt-Friderichs ging auch auf die Kritik ein, die die Vergabe des Preises an eine Wissenschaftlerin hervorgerufen hat, die offen Waffenlieferungen an die Ukraine fordere und sich klar gegen Putins Russland als Feind positioniere.

Schmidt-Friderichs: Applebaum hatte andere Perspektive

Anne Applebaum habe nach dem Fall der Mauer früh vor zu viel Euphorie gewarnt. Sie habe gesehen, dass Russland nur kurz "den schwierigen Weg der Demokratisierung" gegangen und dass bald der Wunsch nach alter Stärke aufgekommen sei.

Anders als Applebaum hätten sich viele Menschen vor dem 24. Februar 2022, dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, nicht vorstellen können, dass es nach den Balkankriegen wieder einen Krieg in Europa geben könnte.

"Applebaums Bücher helfen, die Welt zu verstehen"

Applebaums Bücher "helfen, die Welt zu verstehen, wie sie ist", sagte Schmidt-Friderichs. Sie habe detailliert analysiert, wie ein weltumfassendes autokratisches Netzwerk entstehe, "das die Schwachstellen in unseren demokratischen Systemen für sich zu nutzen weiß."

Gerade die Lektüre von Applebaums beiden jüngsten Büchern sei "schmerzhaft" und zwinge zum Handeln.: "Frieden ist kein Geschenk. Frieden ist die größte Aufgabe unserer Zeit", betonte Schmidt-Friderichs.

Blick von oben auf das Publikum in der Paulskirche
Die Frankfurter Paulskirche war bis zum letzten Platz gefüllt. Bild © hr

Josef: "Pflicht, die Demokratie zu verteidigen"

Zuvor hatte Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) Applebaum für ihre Unterstützung der Ukraine und ihre frühen Warnungen vor den autoritären Bestrebungen Russland gedankt.

"Bedeutet Frieden, dass keine Kampfhandlungen stattfinden? Oder gehört mehr dazu, um den Frieden zu erringen und zu bewahren?", fragte er. Und mahnte: "Wer die Pflichten der Demokratie aufgibt, wird die von ihr gegebenen Rechte verlieren. Es ist unser aller Pflicht, die Demokratie zu verteidigen, weil sie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und ein friedlicheres Zusammenleben ermöglicht."

Der Preis und die Preisträgerin

Applebaum wurde 1964 als Kind jüdischer Eltern in den USA geboren. Neben der US-amerikanischen besitzt sie auch die polnische Staatsbürgerschaft. Sie ist mit Radoslaw Sikorski verheiratet, dem heutigen Außenminister Polens. Sie arbeitet als Journalistin und schrieb Bücher wie "Der Gulag" (2003), "Der Eiserne Vorhang" (2012), "Die Verlockung des Autoritären" (2021) und zuletzt "Die Achse der Autokraten" (2024).

Der mit 25.000 Euro dotierte Friedenspreis wird seit 1950 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben. Preisträger des vergangenen Jahres war Salman Rushdie.

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Quelle: hessenschau.de