An den Beruflichen Schulen Groß-Gerau müssen Schüler und Schülerinnen oft mit veralteter Ausstattung arbeiten.

Eine Atmosphäre zum Grauen und Technik wie aus dem Museum: In diesem Jahr sollte endlich mit dem dringend benötigten Neubau der Beruflichen Schulen in Groß-Gerau begonnen werden. Doch plötzlich fehlt dem Kreis das Geld. Der zuständige Landrat ist ratlos.

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Baustopp an Beruflichen Schulen in Groß-Gerau

Schön ist anders: In solchen Containern wird an den Beruflichen Schulen seit Jahren unterrichtet.
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Auf dem Schulhof der Beruflichen Schulen in Groß-Gerau sieht es aus, wie an vielen anderen hessischen Schulen auch: Graue Container stapeln sich an allen Ecken und Enden. Auch im Inneren der Containerräume dominiert die Tristesse: Grauer Linoleumboden, graue Tische und graue Wände sorgen für eine wenig einladende Atmosphäre. Die Akustik ist schlecht, ebenso das WLAN. Notdürftig haben hier einige Lehrkräfte auf eigene Initiative ein paar Kabel gezogen, damit das Internet wenigstens hin und wieder funktioniert.

"Zeitgemäßer Unterricht ist hier nicht möglich", klagt Schulleiterin Sabine Kämpf. Rund 20 solcher provisorischen Container-Klassenräume stehen seit teilweise über zehn Jahren auf dem Gelände. Früher konnten noch Räume im Gebäude des benachbarten Oberstufengymnasiums genutzt werden, doch das wurde bereits vor Jahren abgerissen.

Seitdem leidet die Schule, an der rund 3.000 Schülerinnen und Schüler ihre duale Berufsausbildung oder eine berufliche Orientierung absolvieren, unter akutem Platzmangel. Das teilweise in den 1950er Jahren erbaute Schulgebäude weist zudem große bauliche Hürden auf, die einen reibungslosen und zeitgemäßen Lehr- und Lernablauf stark behindern.

Wenig einladend: Ein Container-Klassenraum an den Beruflichen Schulen in Groß-Gerau.

Neubau gestoppt

Die Lösung war bereits in Sicht, noch in diesem Jahr sollten die ersten Baumaßnahmen für den fix und fertig geplanten Neubau des Schulgebäudes starten. Die dafür vorgesehenen rund 100 Millionen Euro wollte der Kreis als Schulträger größtenteils über Kredite finanzieren. Doch daraus wird in absehbarer Zeit erst einmal nichts, denn das Regierungspräsidium (RP) Darmstadt hat den Geldhahn zugedreht.

Genauer gesagt hat das RP in seiner Funktion als Aufsichtsbehörde dem Kreis die Aufnahme der benötigten Kredite verweigert. Der Kreis müsse die Nettoneuverschuldungsgrenze einhalten und dürfe deswegen nicht mehr Kredite aufnehmen, als er tilgen kann. Aber das kann er aktuell nicht, was grob zusammengefasst an dem nicht genehmigten Haushalt für 2023 und einem Finanzloch von rund 20 Millionen Euro liegt.

Landrat Thomas Will (SPD) spricht von einem "Paukenschlag", der den Kreis kurz vor Jahreswechsel getroffen hat. Dass nun zuerst die Beruflichen Schulen darunter leiden, bedauere er sehr, sei aber Zufall. Doch nicht nur die Groß-Gerauer Einrichtung sei betroffen, der Finanzierungsstopp wirke sich auch auf viele andere Baumaßnahmen im Bildungsbereich aus.

Auswirkungen auf die Bildungsqualität

Die Beruflichen Schulen sind allerdings ein gutes Beispiel dafür, welche konkreten Konsequenzen der Baustopp kurz- und langfristig für das Bildungssystem im Kreis hat.

An allen Ecken und Enden fehlt es an Platz, die Innenausstattung sowohl der Klassenräume als auch der Werkstätten ist hoffnungslos veraltet. "Unsere Ausstattung ist auf dem Stand der Achtziger", schildert Thomas Bormuth, der an der Beruflichen Schule Elektrotechnik, Physik und Informatik unterrichtet.

Tatsächlich wähnt man sich beim Rundgang durch die Fachräume in einem Museum. "Solche Dinger bekämen heute gar keine Zulassung mehr", sagt Bormuth mit Blick auf die installierten Bohrmaschinen. Aufgrund fehlender Ausstattung könnten einige Themen erst gar nicht behandelt werden: "Den Bereich Gebäudeautomatisierung im Zuge der Digitalisierung können wir hier zum Beispiel nicht abbilden", klagt Bormuth.

Teilweise haben die genutzten Maschinen bereits Museumscharakter.

Räume für Naturwissenschaften fehlen zudem komplett. "Im Chemieunterricht arbeiten wir nur theoretisch, weil wir keine Experimente durchführen können", schildert Schulsprecher Marlo Ramminger, der kurz vor seinem Fachabitur steht. "Es kann nicht sein, dass wir so lernen sollen."

Weil das Schulgebäude zudem nicht barrierefrei ist, scheitert sinnvoller Unterricht oft auch an dem simplen Umstand, dass Material und Maschinen nicht von einem in den anderen Raum transportiert werden können.

Schulleiterin: "Wir könnten besser sein"

In den neuen Räumen sollte alles besser werden. "Dort wird es möglich sein, Theorie und Praxis gleichzeitig zu unterrichten", erklärt Schulleiterin Kämpf. Klassenzimmer und Werkstätten sollen dann zusammengeführt werden, sie spricht von einem "Integrierten Fachraum-Konzept". Die Schule könne dann "viel besser auf die individuellen Lernwege und Lerngeschwindigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler eingehen".

Im Umkehrschluss heißt das: All das ist aktuell nicht möglich. Das hat direkte Auswirkungen auf den Schulalltag der aktuellen Jahrgänge, aber auch auf den künftigen Berufsalltag. "Wir bilden in dieser schnelllebigen Zeit Menschen für Berufe aus, die wir noch gar nicht kennen", so Kämpf. Deswegen lege die Schule Wert darauf, neben Fachkompetenz auch Sozialkompetenz, Personalkompetenz und kritisches Denken zu fördern. "Dafür brauchen wir aber eine zeitgemäße Lernumgebung und die haben wir nicht."

Das Kollegium versuche dennoch, den Schülerinnen und Schülern eine unter diesen Umstände bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen, sagt Kämpf. Aber sie weiß auch: "Wir könnten besser sein."

Landrat Will: "Das System trägt nicht mehr"

Eine Investition in die Beruflichen Schulen käme damit nicht nur den Schülerinnen und Schülern, sondern auch den Betrieben zugute, die jetzt schon händeringend nach gut ausgebildeten Fachkräften suchen. Es wäre zudem eine Investition in die Zukunft des Kreises und somit aller Menschen, die dort leben, denn von einer gut funktionierenden und innovativen Wirtschaft profitierten alle, sagt Landrat Will.

Doch ohne Geld in der Gegenwart kann auch er nicht in die Zukunft investieren. Um die nötigen Finanzmittel doch noch aufzutreiben, müssten die Kommunen eine höhere Schulumlage zahlen, doch das lehnen diese ab. Der Kreis Groß-Gerau hat im Vergleich zu anderen Kreisen eine verhältnismäßig schwache Sozialstruktur, die Kommunen wollen ihre Bürgerinnen und Bürger nicht noch mehr belasten.

Die Situation ist festgefahren: "Wir wollen gute Bildung sicherstellen, aber am Ende müssen das die Kommunen bezahlen", sagt Landrat Will, der ratlos wirkt: "Das System trägt so nicht mehr", sagt er.

Aufgeben will er dennoch nicht. Als nächsten Schritt will der Landrat Gespräche mit dem Regierungspräsidium führen, auch mit den Kommunen möchte er hinsichtlich des Kreishaushalts noch einmal intensiver in Verhandlungen treten. "Das wird dauern und ich gehe davon aus, dass wir am Ende auch nicht den ursprünglich geplanten Betrag bekommen werden", sagt Will.

In diesem Fall müssten die Baumaßnahmen entweder abgespeckt oder über einen längeren Zeitraum gestreckt werden. Das würde wiederum alle anderen Baumaßnahmen an Bildungseinrichtungen im Kreis ebenfalls verzögern. Wieder wären hunderte, wenn nicht sogar tausende junge Menschen davon betroffen.

Kreis rechnet mit jahrelanger Verzögerung

Eine valide Prognose, wann denn die Beruflichen Schulen ihre dringend benötigten neuen Räume beziehen können, möchte Will nicht abgeben. Ursprünglich sollte es 2027 so weit sein. "Alles vor 2030 halte ich aber für unrealistisch", wagt er dann doch noch einen Ausblick.

Bis dahin werden die Beruflichen Schulen weiterhin tausende Schülerinnen und Schüler so gut wie eben möglich zum Berufsabschluss führen. Doch bei jedem einzelnen wird sich Schulleiterin Kämpf denken: "Wir könnten besser sein."

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