Audio

Professor Singelnstein, wie viele Fälle von Polizeigewalt gibt es?

Ein Polizist geht mit gesenktem Haupt.

Der Ruf der hessischen Polizei ist ramponiert. Rechtsextreme Chats, Vorwürfe nach dem Hanau-Attentat, illegale Datenabfragen. Nun tritt mit Innenminister Beuth ihr oberster Dienstherr ab. Einige ungelöste Aufgaben bleiben.

Zum Berufsalltag von Polizistinnen und Polizisten gehört es, Dinge zu sehen, bei denen man lieber wegschauen würde. Stefan Rüppel hatte unlängst einen dieser Momente. Nicht auf der Straße, wo man es erwarten würde, sondern in einer sogenannten Transparenzveranstaltung. "Da wurden uns dann Teile dieser Chats gezeigt", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Hessen.

Hitlerbilder oder Fotos eines ertrunkenen Flüchtlingskindes nebst zynischer Kommentare wie zum Beispiel im berüchtigten Chat "Itiotentreff". Rüppel hat selbst im Dienst schon einiges gesehen. "Erschüttert" sei er dennoch gewesen. Denn an "diesen Chats" waren Kolleginnen und Kollegen beteiligt.

Beuth wurde selbst zur Zielscheibe

Rechtsextreme Inhalte in polizeinternen Chatgruppen, unbefugte Abfragen von Personendaten, Gewaltvorwürfe und Vorwürfe wegen möglicher Versäumnisse während und nach dem rassistischen Anschlag von Hanau: Keine andere staatliche Institution in Hessen ist in den vergangenen fünf Jahren so oft in die Kritik geraten wie die Polizei.

Mehr als einmal musste sich Innenminister Peter Beuth (CDU) schützend vor die Behörde stellen - was ihm wiederum nicht selten den Vorwurf einbrachte, an einer Aufarbeitung von Missständen nicht interessiert zu sein. Nach der anstehenden Landtagswahl endet Beuths neun Jahre währende Amtszeit als Innenminister. Seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin hinterlässt er in Sachen Polizei einige Baustellen.

Der Institution wird vertraut - ihrer Arbeit weniger

Neben Polizeiskandal machte vor allem ein Schlagwort in der öffentlichen Debatte die Runde: Vertrauensverlust. Dabei zeigen Umfragen, dass die Polizei als Institution in der Bevölkerung weiterhin hohes Ansehen genießt.

Eine Erhebung vom November vorigen Jahres durch die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland zeigt, dass die Polizei bundesweit bei rund 74 Prozent der Befragten ein "hohes" oder "sehr hohes" Vertrauen genießt. "Das ist auch, was den Kolleginnen und Kollegen im Dienst widergespiegelt wird", betont Gewerkschafter Rüppel.

Allerdings zeigt der Vergleich zu früheren Umfragen, dass das Vertrauen in die Polizei durchaus rückläufig ist. Zudem bedeute ein generelles Vertrauen in die Institution nicht, dass bestimmte Aspekte der Polizeiarbeit nicht kritisch gesehen würden, betont Tobias Singelnstein, Rechtswissenschaftler und Kriminologe an der Frankfurter Goethe-Universität: "Wenn man die Menschen etwa dazu befragt, wie sie die Fehlerkultur in der Polizei bewerten, ergibt sich ein deutlich differenzierteres Bild."

Singelnstein beruft sich auf noch nicht veröffentlichte Daten, die er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhoben haben. Der Forscher verweist außerdem auf Untersuchungen, wonach das Vertrauen in die Polizei nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen ausgeprägt ist. Menschen aus Einwandererfamilien etwa seien gegenüber den Ordnungshüterinnen und Ordnungshütern deutlich kritischer eingestellt.

Skandale spiegeln sich in Wahlprogrammen

Die Grünen haben dieses Vertrauensparadox in ihrem Wahlprogramm - bewusst oder unbewusst - präzise zusammengefasst. In ein und demselben Absatz heißt es einerseits, "dass die Polizist*innen" das Vertrauen der Bevölkerung jeden Tag durch ihren unverzichtbaren Dienst für unser Gemeinwesen rechtfertigen", dass es aber andererseits gelte, "Vertrauen zurückzugewinnen, das in Teilen der Bevölkerung verloren gegangen ist".

Die Forderung des kleineren Koalitionspartners in Wiesbaden: "Fehlentwicklungen und strukturelle Probleme" müssten konsequent angesprochen werden.

Die Polizeiskandale haben in den Wahlprogrammen ihre Spuren hinterlassen. Einerseits betonen fast alle Parteien ihre grundsätzliche Verbundenheit und Solidarität mit den Beamtinnen und Beamten - selbst die traditionell polizeikritische Linke spricht in einer Kapitelüberschrift von "unserer Polizei". Auf der anderen Seiten enthalten die Programme - mit Ausnahme derjenigen von FDP und AfD - die Forderung nach einer angemessenen Fehlerkultur.

Die Crux liegt derweil im Detail. Während die SPD mit der Forderung nach "einer echten neuen offenen Fehler- und Führungskultur" impliziert, dass diese noch nicht oder zumindest nicht ausreichend implementiert ist, spricht die regierende CDU davon, dass die "neue Fehler- und Führungskultur" gestärkt werden müsse.

Dass die Baustelle bei der Polizei besteht, darin sind sich Christ- und Sozialdemokraten einig - den Baufortschritt bewerten sie allerdings unterschiedlich.

Ministerium fördert Aus- und Fortbildung

Und es ist nicht selten die Polizei selbst, die den Fortschritt bremst. Etwa wenn es um Rassismus in den eigenen Reihen geht. Ein Teil des Problems, so Polizeiforscher Singelnstein, bestehe darin, dass in den Präsidien und auf den Wachen oft ein falsches Verständnis von "strukturellem Rassismus" vorherrsche.

"Das wird dann sehr schnell als Affront oder Beleidigung verstanden" und löse entsprechende Abwehrreflexe aus, hat Singelnstein beobachtet. An der Diskussion komme die Polizei jedoch nicht vorbei.

Das Innenministerium in Wiesbaden verweist derweil auf zahlreiche Maßnahmen, die zur Sensibilisierung von Beamtinnen und Beamten getroffen worden seien. Dazu zähle, dass Themen wie Rassismus und Antisemitismus als Pflichtinhalte in der Ausbildung an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) festgelegt worden seien. Daneben gebe es entsprechende Fortbildungsangebote für aktive Polizeibeamtinnen und -beamte.

Polizeibeauftragter lässt auf sich warten

Nicht zuletzt, betont das Innenministerium, habe eine von Peter Beuth einberufene Expertenkommission Ende 2021 insgesamt 130 Empfehlungen zur Verbesserung der "Fehler- und Führungskultur" der hessischen Polizei erarbeitet. Durch eine eigens dafür eingerichtete Stabsstelle seien mittlerweile 85 dieser Empfehlungen umgesetzt.

Ein Baustein der neuen Fehler- und Führungskultur sollte eigentlich auch längst ein unabhängiger Polizeibeauftragter sein. Er soll als unabhängige Instanz im Konfliktfall zwischen Bürgern und der Polizei vermitteln und auch Vertrauensperson für polizeiinterne Auseinandersetzungen sein.

Der Landtag beschloss zwar bereits 2020, diese Stelle zu schaffen, und fand mit dem Hamburger Kriminologen Rafael Behr auch einen geeigneten Kandidaten. Doch Behr sagte aus gesundheitlichen Gründen ab. Nun soll die Stelle durch die nächste Landesregierung besetzt werden. Noch eine Baustelle für die Zeit nach Beuth.

Fast alle wollen mehr Personal

Zu guter Letzt bleibt die Frage nach der personellen, finanziellen und technischen Ausstattung der hessischen Polizei. Abgesehen von der Linken, die eine grundlegende Reform der Sicherheitsbehörden propagiert, gehen bei den Landtagsparteien zwei Forderungen Hand in Hand: mehr Präsenz und entsprechend mehr Personal für die Polizei.

Die CDU etwa verspricht, die Zahl der Beamtinnen und Beamten auf 16.000 zu erhöhen - von derzeit 15.500. Die FDP fordert 1.500 neue Polizistinnen und Polizisten.

Auch für Stefan Rüppel bleibt die Personaldecke das größte Problem. "Technisch sind wir eigentlich ganz gut aufgestellt", sagt der Polizei-Gewerkschafter: "Was wir brauchen, ist mehr Personal, da die Aufgaben exorbitant steigen." Zudem müssten die Beamtinnen und Beamten endlich verfassungskonform bezahlt werden.

Wer auch immer auf Beuth folgen mag, kann sich also darauf einstellen, dass ihm die Baustelle Polizei erhalten bleibt. Und dass die Arbeiten angesichts der von vielen Seiten herangetragenen Ansprüche kaum im Nu erledigt sein dürften.

Weitere Informationen

Landtagswahl 2023 auf hessenschau.de

Ergebnisse der Hessen-Wahl:

Aktuelles zur Landtagwahl:

Alle Informationen im Wahl-Dossier:

Ende der weiteren Informationen