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Kein Kitaplatz – wie weiter? (1/5)

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25.000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher wird Hessen laut einer Studie bis zum Jahr 2030 brauchen. Schon jetzt ist der Bedarf an zusätzlichen Kita-Plätzen groß. Trotz Rechtsanspruchs bekommen längst nicht alle Eltern einen Platz.

Klettern, rutschen, verstecken: Während ihre Mutter arbeitet, toben Mika und Felix im Garten der Tagesmutter. Doch Ende Oktober ist damit Schluss. Eigentlich sollten die Zwillinge dann, nach ihrem dritten Geburtstag, in Mörfelden-Walldorf (Groß-Gerau) in die Kita gehen. Mutter Bianca, die ihren Nachnamen nicht in den Medien lesen möchte, hatte fest mit zwei Kita-Plätzen gerechnet. Doch im April kam die Absage.

Für Bianca bedeutet das: Ihren 30-Stunden-Job als Industriekauffrau muss sie für mindestens ein Jahr aussetzen. Denn auch die Tagesmutter ist bis August 2024 komplett ausgebucht, der Vertrag kann nicht mehr verlängert werden. Finanziell sei das eine Katastrophe, sagt Bianca. "Mein Mann und ich haben beide keine Riesengehälter." Von beiden Einkommen zusammen könne die Familie gut leben, aber von einem alleine? Ihnen stehe eine harte Zeit bevor.

Die Wartelisten für Kita-Plätze sind lang

In der 35.000-Einwohner-Stadt warten neben den Zwillingen Mika und Felix noch weitere 154 Kinder gerade auf einen Kita-Platz. Auch zahlreiche andere Familien in Hessen stehen auf Wartelisten für Kita-Plätze. In Frankfurt gibt es zwar 54.550 Plätze, doch mehr als 3.000 Kinder haben aktuell noch keinen bekommen. 5,5 Prozent mehr Plätze müssten also geschaffen werden. Auch in Wiesbaden gäbe es mindestens 5,6 Prozent mehr Bedarf.

Insgesamt werden in Hessen nach Daten des Statistischen Landesamts 32,5 Prozent aller Kinder unter drei Jahren in einer Kindertageseinrichtung oder in der Tagespflege betreut. Bei den Kindern unter sechs Jahren sind es knapp zwei Drittel.

Rechtsanspruch ab einem Jahr

Regional gibt es bei der Betreuung der Unter-Dreijährigen große Unterschiede: In Bad Homburg (Hochtaunus) oder Marburg liegt die Betreuungquote mit rund 49 und 45 Prozent überdurchschnittlich hoch, in Hanau (21 Prozent) und Rüsselsheim (15 Prozent) werden besonders wenige Kleinkinder in Kitas oder der Tagespflege betreut.

Einer der Zwillinge steht in einem Holzhäuschen, der andere schaut durch das Fenster nach drinnen.

Dabei gibt es seit 2013 für alle Eltern einen Rechtsanspruch: Für jedes Kind ab einem Jahr müssen die Kommunen einen Betreuungsplatz bereitstellen. Doch in der Praxis fehlt es wie in vielen anderen Branchen vor allem an einem: qualifiziertem Personal.

25.000 Erzieherinnen und Erzieher bis 2030 gesucht

In Mörfelden-Walldorf kann der Kreis schon seit Jahren nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfügung stellen. Verzweifelte Eltern haben sich nun in einer Initiative zusammengeschlossen, um Druck auf die Politik auszuüben. Er könne die Sorgen und Nöte vollkommen nachvollziehen, sagt Stadtrat Karsten Groß (CDU), der seit einem Jahr für alle 1.655 Kita-Plätze in Mörfelden-Walldorf zuständig ist.

Im Oktober soll in der Stadt eine neue Waldkita eröffnet werden, und er würde gerne noch mehr investieren, sagt Groß. Doch er wisse nicht, woher er das Personal nehmen soll. Der Markt sei leer.

Das Problem wird sich in Zukunft wohl noch verschärfen: In ganz Hessen könnten laut einer Schätzung der Bertelsmann-Stiftung bis zum Jahr 2030 rund 25.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. In Deutschland sind es demnach 230.000.

Erziehende klagen über hohe Belastung

Dass der Beruf für viele nicht attraktiv ist, liege nicht einmal mehr am Geld, meint Stadtrat Groß. "Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagen uns, die Arbeitsbedingungen seien das Problem."

Vera Mengler würde das wohl unterschreiben. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Erzieherin, seit Anfang des Jahres spricht sie außerdem für den Kita-Fachkräfteverband. Die Gruppen seien oft zu groß, es gebe zu viel Bürokratie, immer längere Öffnungszeiten und mehr Kinder, die individuell gefördert werden müssen, sagt sie. "Man ist gefühlt immer zwischen allen Welten und kann sich gar nicht auf ein Kind konzentrieren." Ständig müsse eines der Kinder gewickelt, ein anderes getröstet werden. Meist sei eine Erzieherin dann mit 20 weiteren Kindern alleine.

Mengler fürchtet, dass die anhaltende hohe Belastung unter ihren Kolleginnen und Kollegen zu mehr psychischen Erkrankungen führen wird. Schon heute belastet der Zeitdruck 69 Prozent der Erziehenden, zeigt eine Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. 81 Prozent leiden unter zu niedrigem Gehalt, 32 Prozent würden ihre Arbeitszeit gerne verringern, können dies aus verschiedenen Gründen aktuell aber nicht tun.

Die Corona-Pandemie hat für zusätzliche Belastung gesorgt: Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die krankheitsbedingten Ausfälle laut der Krankenkasse DAK um 13 Prozentpunkte. Keine andere Berufsgruppe habe einen so hohen Anstieg an Krankheitstagen verzeichnet.

Wo Kleinkinder besonders gut Deutsch lernen

Neben der Corona-Pandemie stellen auch Sprachbarrieren die Erzieherinnen und Erzieher immer wieder vor Herausforderungen. In der Kita "Kleiner Bär" im Kasseler Norden etwa sei der Migrationsanteil besonders hoch, sagt Leiterin Katrin Linsing. "Wir betreuen auch viele Kinder von geflüchteten Familien." Viele hätten zuvor kein Wort Deutsch gesprochen. "Wir fangen in der Regel bei Null an."

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Brennpunkt Kita – Sprache lernen

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Unterstützung bekommen die Erzieherinnen und Erzieher von Kathrin Roppel. Zwanzig Stunden pro Woche beschäftigt sich die Sprachfachkraft gezielt mit den Kindern, die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Finanziert wird ihre Arbeit über ein Bundesprogramm. 544 solcher Sprachkitas gibt es in Hessen, das ist etwa jede achte Kita.

Förderung für Sprachkitas läuft aus

Doch wie es mit der Sprachförderung in Zukunft weiter gehen soll, weiß Kita-Leiterin Linsing nicht. Denn das Förderprogramm des Bundes endet 2023, die Landesregierung ist bisher nicht bereit, einzuspringen. 15,5 Millionen Euro für die Kitas fielen damit weg.

Porträt von Bianca

Immerhin hat der Bund gerade ein neues Kita-Qualitätsgesetz verabschiedet, das mehr Fördermaßnahmen, mehr Erziehende und auch mehr Kita-Plätze verspricht.

Bianca und ihren Zwillingen Mika und Felix wird das aber wohl nicht mehr helfen. Die Situation mache sie verrückt, sie sei enttäuscht, sagt sie. Natürlich sei sie gerne Mutter, "aber ich bin nicht drei Jahre ausgebildet worden und habe zwei Jahre Weiterbildung gemacht, damit ich jetzt den ganzen Tag lang Biene Maja gucke und singe". Das sei Teil ihrer Welt, aber nicht ihre ganze Welt. Immerhin: für September 2023 hat sie nun eine Zusage für zwei Kita-Plätze erhalten.

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