Grafik mit einem Kind an einem offenen Fenster, im Hintergrund fällt eine Bombe

Viel wird in Deutschland über Geflüchtete gestritten, wenig mit ihnen geredet. In einem neuen Buch melden sich nun geflüchtete Jugendliche zu Wort - und verarbeiten damit ihre teils traumatischen Erlebnisse.

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Jugendliche schildern ihre Flucht in einem Buch

hs
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Das schlimmste Jahr ihres Lebens beginnt für Chaima am 3. August 2014. Es ist der Tag, an dem die Fanatiker des sogenannten Islamische Staates (IS) den Irak angreifen. Die Familie der damals siebenjährigen Jesidin packt das Notdürftigste ins Auto und flieht aus ihrem Heimatdorf.

Aus der Nachbarschaft dringen zuvor Geschichten über Gräueltaten des IS zur Familie durch, Geschichten über durchgeschnittene Kehlen, Erschießungen, Enthauptungen. Die Familie könne trotzdem bald zurückkehren, sagt der Vater, doch Chaima ahnt schon, dass er sie beruhigen will.

Sieben Jugendliche erzählen von der Flucht

Chaimas traumatische Fluchterlebnisse - über die Türkei nach Griechenland und später Deutschland - sind jetzt nachzulesen in dem Buch "Unsere Geschichten. Die Flucht in eine fremde Heimat", herausgegeben vom Büchner Verlag in Marburg.

Neben Chaima schildern darin sechs weitere Jugendliche, die heute auf die Clemens-Brentano-Europaschule in Lollar (Gießen) gehen, ihre Erlebnisse. Die Idee zu dem Buch entstand vor eineinhalb Jahren im Fach Kulturelle Bildung, erzählt Sultana Barakzai, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache.

"Dass so junge Kinder das durchmachen müssen"

Die Schülerinnen und Schüler hätten sich zunächst künstlerisch-darstellerisch mit ihren Erfahrungen auseinandergesetzt. Einige hätten immer wieder darüber geredet, seien gleichzeitig sprachlich schnell fit gewesen, sagt Barakzai. "Dann habe ich gefragt: Traut ihr euch zu, eure Fluchtgeschichten aufzuschreiben, nur mir, ich lese es? Und damit waren meine Schüler einverstanden."

Das Ergebnis mache sie noch heute emotional. "Die Geschichten sind so berührend. Dass so junge Kinder so etwas durchmachen müssen", sagt Barakzai. Es sei wichtig, die Gesellschaft daran zu erinnern: "Das sind Kinder und die haben das nicht verdient." Ähnlich sah es der Büchner Verlag in Marburg, der schnell begeistert war von der Idee, ein Buch herauszubringen, wie Barakzai erzählt.

Schulleiter: Jugendlichen eine Stimme geben

Unterstützung kam von Schulleiter Andrej Keller, der daran erinnert, dass sonst oft über und nicht mit Geflüchteten geredet werde. Den Jugendlichen soll eine Stimme gegeben werden, sagt er.

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Zahl der geflüchteten Kinder auf Höchststand

Die jüngsten Zahlen zu geflüchteten Kindern stammen von Ende 2022. Schätzungen von UNICEF zufolge befanden sich damals 43,3 Millionen Kinder auf der Flucht, viele von ihnen während ihrer gesamten Kindheit. Dies sei ein neuer Höchststand.

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"Das wichtigste Ziel des Buches ist es, der Mehrheitsgesellschaft zu zeigen, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, in der Fremde anzukommen, einen neuen Start zu wagen", betont er. "Kein Mensch, wirklich kein Mensch verlässt gerne und freiwillig seine Heimat."

Schmerzhafte Erinnerungen

Ihr habe das Schreiben auch geholfen, das Erlebte zu verarbeiten, ergänzt die 15-jährige Ros. Die Kurdin ist mit ihrer Familie aus Syrien geflohen und lebt seit zwei Jahren in Deutschland. Das Schreiben sei sehr aufwühlend gewesen: "Es gab viele Gefühle, die ich sensitiv finde, die schwierig zu erklären sind", sagt Ros.

Besonders schlimm sei gewesen, sich an die Trauer ihrer Mutter und ihrer Geschwister zu erinnern, als die Familie ihr Heimatland verlassen musste. "Ich glaube, ich habe meine Kindheit verloren", bilanziert Ros. "Ich hoffe, niemand erlebt sowas."

"Dein Leben kann in einem Moment enden"

Ähnliches schildert der 16-jährige Oleksandr, der 2022 aus der Ukraine flieht. "Ich will den Menschen zeigen, wie schnell Flucht passieren kann", erklärt er. Auch für ihn sei das Schreiben darüber nicht leicht gewesen.

"Am schwierigsten war das Gefühl des Unbekannten", erinnert er sich. "Dass du nicht weißt, was in den nächsten fünf Minuten mit dir passieren könnte. Dass in dein Auto geschossen werden könnte. Oder dass eine Rakete einschlagen könnte. Dein ganzes Leben kann in einem Moment enden."

"Neue fremde Heimat ist etwas Schönes"

Zwar vermisst er seine Freunde, sagt Oleksandr, doch er sei dankbar, dass er in Deutschland in Sicherheit leben und seine Ausbildung abschließen kann.

Zwei Frauen und ein Mann stehen an einem Fenster

"Wenn man an einem fremden Ort ist, kann man die Sprache erst nicht, man kennt die Menschen erst nicht", ergänzt Ros. "Aber wenn man die Liebe empfängt, Freundschaften schließt und in Sicherheit ist, dann kann es deine neue fremde Heimat werden, und das ist was Schönes."

"Trotz alledem bin ich glücklich"

Chaimas Familie sieht Menschen sterben, durchlebt Hunger, Durst, Erschöpfung und Todesangst, um in Sicherheit zu leben. Sie erreicht nach Stationen in mehreren europäischen Ländern am 13. Dezember 2015 Darmstadt.

Doch das ist nicht das Ende von Chaimas Bericht. Sie schreibt von ihren neuen Freunden in Deutschland und vom Gefühl der Dankbarkeit: "Momentan könnte es mir nicht besser gehen. Trotz all dem, was ich erlebt habe, bin ich glücklich."

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Unsere Geschichten: Die Flucht in eine fremde Heimat

Von Sultana Barakzai, Victoria Faurean, Ros Ibrahim Chaima Kenaou u.a.
Büchner Verlag 2024
19 Euro

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