Der Angeklagte verbirgt sein Gesicht hinter einem Aktenordner.

Nach dreieinhalb Monaten Prozess wird an diesem Donnerstag in Gießen das Urteil um die getötete Schülerin Ayleen erwartet. Ein Rückblick auf eine intensive Verhandlung, die viele Facetten einer furchtbaren Tat ans Licht brachte.

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Urteil im Prozess um mutmaßlichen Mord an Ayleen erwartet

Bildlkombination: Foto eines Sees inmitten einer Landschaft links und rechts ein unkenntlich gemachtes Portraitfoto der toten Ayleen.
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Es war nicht der längste Prozess am Gießener Landgericht. Auch kein außergewöhnlich komplizierter. Aber: Es war ein Prozess der Abgründe. Er gab erschreckende Einblicke in das, was die 14-jährige Ayleen in den Wochen vor ihrem Verschwinden und in dieser Nacht, in der sie getötet wurde, wohl durchmachen musste: den psychischen Druck, die immer krasseren Grenzüberschreitungen, die vollkommene Überforderung. Und schließlich die Todesangst.

Die Verhandlung ließ auch tief blicken in die Abgründe des mutmaßlichen Täters. Der 30-jährige Jan P. aus Waldsolms (Lahn-Dill) sagte während der dreieinhalb Monate vor Gericht zwar nur einen einzigen vollständigen Satz. Die Ermittler, Vernehmungsprotokolle und Zeugenaussagen zeichneten aber ein recht genaues Bild von seiner Persönlichkeit: Jan P. ist demnach ein Mensch, der seelisch so kaputt ist, wie man es sich wohl sonst nur schwer vorstellen kann.

Er ist so kaputt, dass er alles um sich herum mit in seinen Abgrund reißt. Vermutlich nicht, weil ihm das Freude macht - es ist einfach das, was er wohl schon von früher Kindheit an tut: zerstören. Erst Dinge, dann Menschen. Erst wahllos, dann mit einem perfiden System. Erst im Internet, dann mit den Händen.

Kein Mitgefühl, kein Gewissen, keine Schuld

Jan P. ist nicht in einer Form psychisch krank oder auf eine andere Art eingeschränkt, dass er dadurch schuldunfähig wäre. Er ist nicht pädophil und auch kein Sadist. Aber: Er hat keinerlei Gerüst an sozialen Werten und Normen. Er kennt kein echtes Mitgefühl, kein Gewissen, keine Schuld.

Als gefühlskalt, egozentrisch und vollkommen therapieresistent wurde er im Prozess beschrieben. Und als jemand, der nur seine eigenen sexuellen Bedürfnisse sieht und sich nimmt, was er will. Wenn andere darunter leiden oder sogar sterben, dann scheint ihm das vollkommen egal zu sein.

"Halt blöd", soll P. die Tat kommentiert haben, er habe sich damit seine Zukunft verbaut. Er hoffe, im Strafvollzug möglichst uneingeschränkt Medien konsumieren zu können und in Ruhe gelassen zu werden, auch von therapeutischen Maßnahmen.

Einer der wohl prozessprägendsten Momente war der, in dem die Ermittler offenbarten, wie P. am Morgen nach Ayleens Tod ein weiteres Mädchen anschrieb. Er schickt ihr ein Video, auf dem er masturbierte. Das war nur wenige Stunden, nachdem er Ayleens Leiche in den Teufelsee geworfen hatte – "wie ein Stück Vieh", wie eine Polizistin während der Verhandlung dazu sagte.

Angeklagter wirkt völlig stumpf

Im Fachjargon nennt man P.s Zustand eine ausgeprägte dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Zügen. Laut psychologischem Gutachter besteht ein hohes Risiko, dass er wieder töten könnte.

In den dreieinhalb Monaten vor Gericht wirkte dieser Mann so ganz anders als das, was viele sich vermutlich unter einem Psychopathen vorstellen. Jan P. ist klein, pickelig und ungepflegt, er wirkt jünger als die 30 Jahre, die er alt ist. Er wirkt nicht irgendwie gerissen, sondern einfach völlig stumpf.

Besonders intelligent ist er laut einem Gutachten tatsächlich nicht. Aber offenbar ist er klug genug, um sehr gezielt im Internet auf "Jagd" zu gehen und die besonders verletzlichen Opfer anzuvisieren.

Beeindruckende Ermittlungsarbeit

Wie genau er dabei vorging, wurde im Prozess sehr ausführlich dargestellt. Es war beeindruckende Ermittlungsarbeit, die hier in Mittelhessen geleistet wurde, angefangen bei der äußerst akribischen Datenauswertung über die Rekonstruktion der mutmaßlichen Tathergänge bis hin zur entscheidenden Befragung, in der P. schließlich zugab, Ayleen erwürgt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft betont aber auch: So klar die Beweislage inzwischen ist - es hätte ganz anders ausgehen können. P. wäre fast davon gekommen.

Ausschlaggebender Kreuztreffer

Denn: Der ausschlaggebende Punkt in der Ermittlung war lediglich ein sogenannter Kreuztreffer in den mobilen Handydaten von Ayleen und Jan P. Er zeigte, dass die Rufnummern der beiden mehrmals zur gleichen Zeit in den gleichen Funkzellenbereichen eingeloggt waren. Die Polizei in Ayleens Heimat Baden-Württemberg konnte das eine Woche nach ihrem Verschwinden gerade noch rechtzeitig feststellen. Nur Tage später wären die Daten aufgrund der derzeitigen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung gelöscht worden.

Im Bildvordergrund eine Drohne auf dem Boden einer Wiese. Im Bildhintergund streifen viele Polizisten durch die Wiese am Rande eines Sees.

Nur aufgrund dieses Treffers kamen die Ermittler überhaupt auf den Angeklagten, der 300 Kilometer entfernt lebte. Nur aufgrund der Bewegungsdaten auf seinem Handy durchsuchten sie den Teufelsee und fanden Ayleens Leiche, die allerdings keinerlei Hinweise auf ihn hätte geben können. Nur deshalb fanden sie schließlich ihre Kleidung in seiner Wohnung.

Die Frage nach dem Warum

Am Ende dieses Prozesses sind viele Facetten einer furchtbaren Tat ans Licht gekommen. Ein Rätsel bleibt, warum sich dieses als zurückhaltend und schüchtern beschriebene Mädchen überhaupt auf den Kontakt mit dem Angeklagten einließ, der schließlich zum "Feind in ihrem Chat" wurde, wie die Staatsanwaltschaft es nannte. P. bombardierte Ayleen zum Teil mit hunderten hochsexualisierten Nachrichten am Tag. Zumindest am Anfang machte sie aber freiwillig mit, so wie noch zahlreiche andere junge Mädchen auch.

Die große Frage nach dem Warum konnte der Prozess nicht wirklich beantworten. Nur die Aussage einer Zeugin hallt nach. Sie hatte als Dreizehnjährige ebenfalls mit P. Nacktbilder und Nachrichten ausgetauscht. "Ich wollte mich gut fühlen", sagte sie. "Komplimente bekommen und so."

Cybergrooming: Hochsexualisierte Nachrichten

Das Verfahren hat deshalb noch einen weiteren Abgrund gezeigt: wie normal es in vielen Teenagerzimmern inzwischen zu sein scheint, mit völlig Fremden übers Internet sexuelle Inhalte auszutauschen, ohne sich der Risiken bewusst zu sein und ohne, dass die Eltern irgendetwas davon ahnen. Wenn das Gegenüber deutlich älter ist, nennt man das Cybergrooming.

Die Betroffenen – meist Mädchen – werden über Snapchat, Instagram oder sogar Online-Spiele angeschrieben. Während viele im echten Leben noch vollkommen unerfahren sind, gehen sie im virtuellen Raum auf die Sex-Fantasien der Männer ein. Die haben sie so dann aber auch im realen Leben in der Hand.

Soziale Medien böten ideale Voraussetzungen für das Zusammenfinden bestimmter Arrangements, sagte der psychiatrische Gutachter Hartmut Pleines im Prozess: junge Mädchen, die in eine Welt eintauchen, die nicht altersgerecht ist, und in der durch Posen und Kleidung eine Reife suggeriert wird, die nicht der Realität entspricht. Für die das eine Art Testfeld ist. Und Männer wie Jan P.

Die dreizehnjährige Zeugin konnte die Reißleine gerade noch rechtzeitig ziehen und sich aus dem Strudel befreien. Ayleen nicht. Ein paar Wochen später stand Jan P. vor ihrer Haustür.

Verurteilung wegen Mordes erwartet

Das Urteil wird am Donnerstagnachmittag erwartet. Selbst die Verteidigung geht inzwischen davon aus: Jan P. hat Ayleen ermordet. Er selbst brachte am Ende noch einen Satz zustande: Es tue ihm leid. Er wird wohl sehr, sehr lange hinter Gittern bleiben, vielleicht sogar wirklich bis an sein Lebensende.

Der Staatsanwalt forderte die in Deutschland höchstmögliche Strafe: lebenslänglich mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. Dass sich die Verteidigung der Forderung nach Sicherungsverwahrung nicht entgegenstellte, ist äußerst ungewöhnlich. Und es zeigt, wie gefährlich dieser Mann ist.

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Rückblick auf den Mordprozess am Gießener Landgericht

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