Belastungen zu hoch "Es reicht!" - Frustrierte Bürgermeister aus Kreis Groß-Gerau schreiben Brandbrief
Immer höhere Abgaben, steigender Unmut in der Bevölkerung und persönliche Anfeindungen: Die Stadtoberhäupter im Kreis Groß-Gerau haben einen Brandbrief verfasst, der einem Hilferuf gleicht. Auslöser ist vordergründig der aktuelle Haushaltsentwurf - doch das Problem ist ein grundsätzliches.
Es reicht! Dieser Ausruf des Unmuts prangt fett geschrieben über einem Brandbrief, den alle Bürgermeisterinnen und -meister des Kreises Groß-Gerau gemeinsam verfasst haben. Adressiert ist der Brief an den Kreis, die Kritik zielt allerdings auf Bund und Land. Auslöser ist wie so oft das liebe Geld - die Kommunen seien am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt.
"Wir tragen diese Entwicklung nicht mehr mit", heißt es in dem Brief und auch in einem Video, das die Stadtoberhäupter gedreht und unter anderem in den Sozialen Medien veröffentlicht haben.
Gemeint sind in diesem speziellen Fall die laut den Kommunen erneut nach oben angepassten Hebesätze für die Kreis- und Schulumlage im aktuellen Haushaltsentwurf. Das sind die Abgaben, die die Kommunen an den Kreis entrichten müssen, damit der seinen Verpflichtungen etwa beim Bau und Unterhalt von Schulen nachkommen kann.

Zusätzlich zu der bereits im ursprünglichen Haushaltsentwurf vorgesehenen Erhöhung der Schulumlage um 4,5 Punkte sehe der neue Entwurf auch eine Anhebung der Kreisumlage um 3 Punkte vor, schreiben die Rathauschefs. Eine Belastung, die die Kommunen nicht mehr tragen könnten. "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, und das ist keine Floskel", erklärt Jochen Engel (Freie Wähler), Bürgermeister von Trebur und Vorsitzender der Kreisversammlung, im Gespräch mit dem hr.
Die Kreisstadt Groß-Gerau beispielsweise müsste nach neuem Haushaltsentwurf bis 2028 rund 1,6 Millionen Euro mehr für die Kreisumlage aufbringen, wie aus einer Auflistung des Kreistages hervorgeht. Auf Stockstadt am Rhein als mit rund 6.000 Einwohnerinnen und Einwohnern kleinste Kommune im Kreis kämen rund 620.000 Euro Mehrausgaben zu. Alle Kommunen zusammen müssten rund 14,5 Millionen Euro mehr stemmen.
Gravierende Folgen für Bevölkerung befürchtet
Das habe laut Brandbrief gravierende Folgen für die Menschen in den Städten und Dörfern: Um die geforderten Beträge aufbringen zu können, müssten die Kommunen an allen Ecken und Enden sparen und freiwillige Leistungen kürzen. Selbst ein "weitreichender Kahlschlag von Sportanlagen über Büchereien und Musikschulen bis hin zur Jugendarbeit und Ferienprojekten" reicht nach Ansicht der betroffenen Kommunen nicht mehr aus, um den Haushalt auszugleichen.
Ein weiteres Mittel, um Geld in die Kassen zu bekommen, sei die Erhöhung der Grundsteuer. "Wir haben aber jetzt schon mit die höchsten Sätze in Hessen und können unseren Bürgerinnen und Bürgern keine weiter Erhöhung zumuten", so Engel.
"Wir verspielen das Vertrauen in die Demokratie"
Die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen fürchten aber nicht nur um die Infrastruktur vor Ort. "Wir verlieren die Akzeptanz unserer Bürgerinnen und Bürger und verspielen das Vertrauen in die Demokratie", heißt es in dem Brief weiter. Das spiele radikalen Parteien in die Karten.
In mehreren Kommunen habe sich bereits erheblicher Widerstand aus der Bevölkerung gegen weitere Einsparungen formiert. "Am Ende heißt es immer, wir Bürgermeister sind schuld", sagt Riedstadts Bürgermeister Marcus Kretschmann (CDU) dem hr. Er berichtet von persönlichen Anfeindungen und hemmungslosen E-Mails, die er bekomme. "Das ist manchmal schwer zu ertragen."
Ktitik richtet sich an Land und Bund
Die Rathauschefs und -chefinnen fordern die Mitglieder des Kreistags deswegen in ihrem Brief auf, den Haushaltsentwurf abzulehnen. Auch wenn der Unmut in diesem Fall an Landrat Will als Vertreter des Kreises adressiert ist, wissen auch die Kommunen, dass das Problem nicht auf den Kreis Groß-Gerau beschränkt ist. Hessenweit, sogar bundesweit hätten Kommunen die gleichen Probleme. Erst vor wenigen Wochen etwa hatten nordhessischen Landräte Alarm geschlagen und vor einem finanziellen Kollaps gewarnt.
Es seien die Anforderungen von Land und Bund sowie steigende Sozialleistungen, die zu dieser Entwicklung führen, steht in dem Groß-Gerauer Brief. "Wir positionieren uns gegenüber dem Kreis als nächst höhere Ebene. Der Kreis wiederum sollte sich gegenüber Land und Bund positionieren", sagt Bürgermeister Kretschmann im Gespräch.
Beschlüsse auf Landes- und Bundesebene müssten am Ende oft durch die kommunalen Steuern finanziert werden, beispielsweise die Ganztagsbetreuung in Schulen oder die Kosten für den Kita-Ausbau, die durch die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Platz anfallen. "Das sind Standards, die das Land festlegt, die wir aber finanzieren müssen", klagt Treburs Bürgermeister Engel. Die Kita-Kosten etwa seien in Trebur in den vergangenen fünf Jahren von rund drei Millionen Euro auf sechs Millionen Euro gestiegen.
"Zuletzt haben die Kommunen rund 28,4 Prozent aller staatlichen Aufgaben erfüllt, während sie dafür nur 15,5 Prozent der bundesweiten Steuern erhalten haben", rechnet Engel vor. "Das kann so nicht funktionieren."
Landrat unterstützt Kommunen
So sieht das auch Landrat Thomas Will (SPD), der sogar an dem Brief mitgewirkt hat, auch wenn seine Unterschrift fehlt. "Ich kann ja schlecht dafür werben, der Kreisumlagenerhöhung nicht zuzustimmen", erklärt er dem hr. Er stehe aber voll hinter dem Anliegen der Kommunen, mit denen er sich nach eigenen Angaben alle vier Wochen austauscht. "Wir sitzen in einem Boot."
Den Ausruf "Es reicht!" würde Will sogar um zwei Worte erweitern: "Es reicht schon lange!" In allen Bereichen würden Ausgaben steigen, etwa bei Energie, Personal oder beim Bau neuer Einrichtungen. "Das muss bezahlt werden." Da das Geld aber nicht von Land oder Bund komme, müssten es am Ende die Kommunen über die Umlagen finanzieren. "Ein anderes Mittel haben wir als Kreis nicht."
Will fordert Einkommenssteuer-Reform
Es brauche eine grundlegende Neuausrichtung der kommunalen Finanzierung. Sozialleistungen etwa müssten zu größeren Teilen vom Bund bezahlt werden, fordert Will. Eine Möglichkeit zur Neuausrichtung sieht der Landrat auch in einer Reform der Einkommenssteuer. "Der Bund könnte Kommunen etwa die Möglichkeit einräumen, einen Zuschlag zur Einkommenssteuer zu erheben", so Will. So könnten Besserverdienende mehr Kosten tragen und Geringverdienende entlastet werden.
Den Brandbrief versteht Will als deutliches Zeichen der Kommunalpolitik in Richtung Wiesbaden und Berlin. Sein Urteil fällt klar aus: "Die kommunalen Aufgaben sind nicht mehr zu bewältigen."