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Der heiße Wahlkampf hat begonnen

Plakatwand zur Landtagswahl in Sinntal

Zwei Wochen noch bis zur Landtagswahl in Hessen. Die Parteien sind in Wallung, bei vielen Wählerinnen und Wählern stimmt dagegen der Ruhepuls noch. Ob Spekulationen über die Küsschen-Müdigkeit des Kanzlers das ändern?

Hat Hessen 14 Tage vor der Landtagswahl gleich zwei Regierungschefs? Der tatsächliche CDU-Amtsinhaber Boris Rhein setzt im plakatierten Großformat als "Unser Ministerpräsident" zu Beginn der heißen Wahlkampfphase aufs Wir-Gefühl. Der grüne Vize-Regierungschef Tarek Al-Wazir, einer der Herausforderer, bringt sich der Einfachheit halber auf einem Riesenposter auch schon mal als "Ihr Ministerpräsident" ins Spiel.

Wer sagt, dass Wahlplakate eindeutig und klar sein müssen? Mit dem Slogan "Autos verbieten verboten" etwa stellt die Union landauf landab Stoppschilder gegen ein empörend scheinendes Vorhaben auf - das allerdings kein politischer Kontrahent verfolgt. Ein beherrschendes Aufregerthema aus der Landespolitik gibt es zu Beginn der heißen Wahlkampfphase immer noch nicht.

"Müder Wahlkampf" – die Diagnose  muss auf die beteiligten Politiker und ihre sich abstrampelnden Helfer zwar wie Hohn klingen. Aber wenn es wegen der Hessen-Wahl zur Sache ging, dann vor allem in Berlin - das ist ein Aspekt in der Wahlkampf-Zwischenbilanz.

1. Gründe zu kämpfen

In den Zentralen der im Landtag vertretenen Parteien geben sich alle kämpferisch und zuversichtlich. Das Interesse an ihren Veranstaltungen sei gut, heißt es unisono. Die Massen strömen aber selbst bei Großprominenz aus der Bundeshauptstadt längst nicht mehr zu einer Kundgebung und auch nicht zur Townhall. Wo früher durchaus einige tausend Besucher als Erfolg verbucht wurden, sind es im Herbst 2023 einige hundert.

Die Sache dürfte an Fahrt gewinnen. Die CDU scheint uneinholbar vorne zu liegen. Aber es ist laut aktuellem hr-Hessentrend längst nicht entschieden, wie die Platzierungen dahinter am Ende ausfallen, welche Koalitionen möglich werden und wer vielleicht nicht mehr ins Parlament kommt.

2. Themen und Kampagnen

Ausbau des ÖPNV, Klimaneutralität, Staatsfinanzen: Es ist schwer, mit Sachthemen durchzudringen. Das liegt vor allem daran, dass bundespolitische Problemlagen wie Ampelstreit, Energiewende und zuletzt immer stärker die Flüchtlingspolitik alles überlagern.

Die CDU kann es sich daher mit dem seit Monaten getrommelten Anti-Ampel-Slogan "Kurs statt Chaos" vergleichsweise einfach machen. Zumal sich Rheins Herausforderer Al-Wazir und Bundesinnenministerin Nancy Faeser wie er bei allen Unterschieden an das alte Motto halten: Wahlen werden in der Mitte entschieden.

Die SPD will gegen die Union mit Vorschlägen etwa gegen den Fachkräftemangel Wechselstimmung befördern. Doch von wegen Attacke: Faeser muss seit Wochen als Folge ihrer ohnehin stressigen Doppelrolle als Bundesinnenministerin und Kandidatin Defensivstrategien in eigener Sache entwerfen.

In die Tiefen heftiger Dauerattacken auf sie - wie im Fall der umstrittenen Versetzung von Arne Schönbohm als Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) - braucht sich Hauptkontrahent Rhein nicht einmal begeben. Das übernehmen CDU-Bundestagsfraktion, Hessen-CDU-Generalsekretär Manfred Pentz und nicht zuletzt die Bild-Zeitung.

Das Blatt hat Faeser fast täglich in den Negativ-Schlagzeilen. Gerade sogar mit der "Wahlkampf-Panne", der Kanzler Olaf Scholz habe sich weggedreht, "als Faeser ihn küssen will". Nicht nur Kaweh Mansoori, Vorsitzender des SPD-Bezirks Hessen-Süd und Bundestagsabgeordneter, spricht von "diskreditierenden Kampagnen". Inzwischen titeln aber auch Spiegel-Redakteure schon "Selbstverteidigungsministerin".

3. Krankheiten, Stürze und Pannen

Wie FDP-Kabinettskollege Christian Lindner wurde Faeser zwischenzeitlich für den Hessen-Wahlkampf durch Corona gebremst. Der geplante Auftakt mit Kanzler Olaf Scholz fiel auch noch wegen dessen Jogging-Sturz' aus. Parteiintern drückt aber auch Selbstverschuldetes auf die Stimmung, Zweifel an ausreichender Kampganenfähigkeit nagen.

Angriffsfläche bot die SPD etwa durch einen "redaktionellen Fehler" im Wahlprogramm, der zerknirscht korrigiert werden musste. Nach sechs Jahren Aufenthalt will die Partei Nicht-EU-Ausländern das Kommunalwahlrecht geben. Niemand merkte, dass aus Versehen von sechs Monaten die Rede war.

Das Programm der FDP wiederum brachte deren Spitzenkandidat Stefan Naas ins Schlingern: Beim Quiz in der "hr-Wählbar" schrieb er der SPD irrtümlich einen Passus zum Fachkräftemangel in Kitas zu, den die Liberalen so formuliert hatte. Die Gelegenheit, ihm das aufs Brot zu schmieren, nutzte der für Kitas zuständige grüne Sozialminister Kai Klose gerade genüsslich in einer Sitzung des Landtags.

4. Erstes Finale im Plenum

Früheren Gepflogenheiten zum Trotz tagte das Parlament gerade trotz kurz bevorstehender Wahl noch einmal. Die Opposition hatte auf die letzte Gelegenheit gedrängt, die Regierung im Plenarsaal attackieren zu können. Die wiederum versuchte auch, ihre Themen zu platzieren.

Auf Regierungsseite nahm sich die CDU mit der "innenpolitischen Untätigkeit im Bund" Faeser vor. Die Grünen als Koalitionspartner griffen sich die in Umfragen immer stärker gewordene AfD und appellierten: "Demokratisch wählen – keine Macht den Feinden der Demokratie!"

Gegen "eine Politik gegen das Auto“ kämpfte die FDP. Das taten SPD und Linke in getrennten Initiativen unter anderem gegen "Lehrermangel und Unterrichtsausfall" und die AfD gegen "destruktive Ziele einer Klimaneutralität". In der Schul-Debatte zog Kultusminister Alexander Lorz (CDU) das Fazit: "Genauso habe ich mir eine Plenardebatte vor der Wahl vorgestellt."

5. Dämpfer und Motive

Bei allem Kampfgeist im Plenarsaal: Inzwischen hat manche Hoffnung schwere Dämpfer erhalten. Es trifft vor allem die SPD, aber auch die Grünen. Beide wollen nach 25 Jahren CDU-Herrschaft demnächst die Landesregierung führen. Beide müssen sich gegen den Bundestrend und die gesunkene Popularität der Ampel-Koalition stemmen.

Das geht der FDP genauso. Wie die Linke kämpft sie aber um den Verbleib im Landtag, die Freien Wähler um den erstmaligen Einzug. Aber auch die CDU, die im hr-Hessentrend weit vorne liegt, kann den Wahlkampf nicht gleich einstellen. Ihre Sorge muss nicht zuletzt der Wählermobilisierung gelten: Wenn zu viele Anhänger aus Siegesgewissheit nicht wählen gehen, werden Koalitionsbildungen schwerer – oder doch noch eine Ampel möglich.

Am leichtesten tut sich derzeit wohl die AfD: Man werde zwar noch ein bisschen anziehen, verlasse sich aber weiterhin auf die Bundesregierung, heißt es dieser Tage süffisant aus ihren Reihen. Gerade einmal sieben Veranstaltungen hat der Landesverband bekannt gegeben. Für ihn haben Werbung und Mobilisierung in den sozialen Medien besonderen Stellenwert.

6. Besuch aus Berlin

Die herkömmliche Tour, reichlich Prominenz aufzufahren, ist aber längst nicht außer Mode. Auch die AfD verzichtet nicht: Ihr Ehrenvorsitzender Alexander Gauland, zu seinen CDU-Zeiten einmal Chef der hessischen Staatskanzlei, kommt ebenso wie Parteichefin Alice Weidel.

Andere haben an Zahl und Rang mehr zu bieten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) etwa hat seine Parteikollegin Faeser bereits im August auf einer Tour durchs Hessenland begleitet: An diesem Samstag bestritt er mit ihr die zentrale Veranstaltung in Baunatal (Kassel).

Nancy Faeser und Kanzler Scholz beim Wahlkampf-Termin in einer Schreinerei in Mühlheim bei Offenbach

In der kriselnden Ampel-Koalition stellt sich allerdings die Frage, wie werbewirksam Besuch aus Berlin derzeit ist. Anderen geht es womöglich ähnlich. CDU-Parteichef Friedrich Merz war beim Auftakt in Hofheim dabei und erhielt viel Applaus. Der Mann, der mit umstrittenen Aussagen Ministerpräsident Rhein wiederholt zu Brandmauer-Bekenntnissen zwang, ist im Endspurt aber laut aktueller Terminplanung nicht vorgesehen.

Das Pensum mancher Polit-Promis wird noch dadurch gesteigert, dass auch in Bayern am 8. Oktober gewählt wird. Zumal wenn ihre Rolle in der Partei so zentral ist wie die von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Er steigt für seine Partei besonders oft in den Ring: Siebenmal dürfte er am Ende allein für die hessischen Liberalen mindestens im Einsatz gewesen sein.

7. Die lieben Kollegen

Gern gesehen bei Kandidaten, die Ministerpräsident bleiben oder werden wollen: Parteifreunde, die den Posten schon haben. SPD-Mann Stephan Weil aus Hannover wird Faeser noch in Frankfurt zu Hilfe eilen, Malu Dreyer war aus Mainz schon auf der anderen Rheinseite und kommt mit den Amtskolleginnen Anke Rehlinger (Saarland) und Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) noch einmal wieder.

Unions-Ministerpräsidenten Boris Rhein (l.) und Markus Söder beim Brauereibesuch in Seligenstadt

Rhein wiederum sonnt sich im Glanz von Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und des CSU-Amtskollegen Markus Söder. Wahlhilfe leistet mit Auftritten als "CDU Originals" zwar auch ein Trio: Rheins Amtsvorgänger Roland Koch und Volker Bouffier sowie die Ex-Oberbürgermeisterin Petra Roth aus Frankfurt. Die Schlusskundgebungen der Union absolviert Rhein in Fulda und Gießen aber lieber allein.

Hessens Wirtschaftsminister und Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir signalisierte gemeinsam mit dem im Nachbarland populären Regierungschef Winfried Kretschmann, dass er ökologisches Bewusstsein mit Pragmatismus und Verlässlichkeit verbinden will.

Bei aller betonten Distanz zum Streit in der Ampel, den er längst auch mal "Zirkus" nennt: In der ersten Oktoberwoche kommen mit Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck auch die führenden Köpfe der Grünen mehrmals aus Berlin zu Al-Wazir.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (3v.l.) mit Ministerpräsidenten-Kandidat Tarek Al-Wazir (5.v.l.) in einem Metallbaubetrieb in Wiesbaden

Mit Thüringens MP Bodo Ramelow hat auch die vor der Fünf-Prozent-Hürde zitternde Linke in Hessen ein Zugpferd in Amt und Würden. Rückenwind aus der Hauptstadt ist aber auch für sie schwer einzufangen: Mit Gregor Gysi als Alt-Star der Partei und der im Landesverband unumstrittenen Frankfurter Bundesvorsitzenden Janine Wissler scheint ihr das machbar.

8. Zwiespältige Aufmerksamkeit

Kleinere Parteien tun sich schwer, etwas Aufmerksamkeit zu erlangen, weil neben Geld auch Prominenz fehlt. Den Freien Wählern, bisher in Hessen lediglich in Kommunalparlamenten vertreten, gelang das. Sie begrüßten auf dem Höhepunkt der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt im Schulranzen von Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger. Ein so polarisierender Aufreger steht im hessischen Wahlkampf noch aus.

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