Landtagswahl in Hessen Das kleine Einmaleins der Koalitionsbildung

In den Umfragen zur Landtagswahl hat die CDU die Nase weit vorne. Am Ende aber entscheidet die Koalitionsbildung. Und die hat ihre Tücken.

Büroklammern in den Farben schwarz, rot, grün und gelb liegen immer wieder neu verknüpft nebeneinander auf einem hellgrauen Kreis. Der Kreis ist vor einen blauen Hintergrund mit Verlauf gesetzt. Darauf ein Wahlkreuz rechts oben.
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hr-Hessentrend vor der Landtagswahl

Säulendiagramm mit den Ergebnissen der Umfrage: CDU 31%, Grüne 17%, SPD 18%, AfD 17%, FDP 5%, Linke 3%, Freie Wähler 3%, Andere 6%. Auf der Grafik sind noch die Logos des hessentrend und der Landtagswahl 2023 zu sehen.
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Bei aller Ungewissheit über das Ergebnis der Landtagswahl am 8. Oktober: Am Ende wird es für einen Alleingang bei Weitem nicht reichen. Auch nicht für die CDU, der laut aktuellem hr-Hessentrend die Stimmung am stärksten zuneigt.

Wenn in Parteizentralen derzeit gebangt, gehofft, gerechnet und spekuliert wird, dann also nicht zuletzt wegen der Frage: Wer könnte mit wem? Oder besser: Wer könnte mit uns, wer gegen uns?

Das spielt im Wahlkampf eine große Rolle, nach der Schließung der Wahllokale sogar die zentrale. Schauen wir uns die Ausgangslage also genauer an.

1. Das Solo stirbt aus

Es war eine merkwürdige Koalition, die 1945 die erste hessische Nachkriegsregierung bildete. Mangels Parlament von den Alliierten eingesetzt, zählten zu ihr neben Ministern von CDU, SPD und der FDP-Vorgängerin LPD nicht nur mehrere Parteilose. Das Ressort für Arbeit und Wohlfahrt verantwortete ein Kommunist.

So kunterbunt kam es später nie wieder. Koalitionen sind inzwischen aber die Regel. Bislang traten sie stets in der Form des Duos und in vielfältigen Kombis wie SPD/CDU, SPD/FDP, SPD/Grüne, CDU/FDP oder CDU/Grüne in Erscheinung.

Als man noch von Volksparteien sprach und die Parteienlandschaft übersichtlicher war, waren Alleingänge noch möglich: zugunsten der SPD Anfang der 1950er und in den 1960er Jahren, für die CDU sogar noch einmal ab 2003. Der damalige Ministerpräsident Roland Koch bot der FDP damals trotz der absoluten Mehrheit der CDU das Mitregieren an, was auf dankende Ablehnung traf.  

2. Die Ersten werden die Letzten sein

Zumindest kann der Erste in die Röhre schauen - und das bereitet der Union und ihrem Ministerpräsidenten Boris Rhein die größten Sorgen. Mit 31 Prozent halten sie in der derzeitigen Stimmungslage SPD (18 Prozent) und Grüne (17) zwar deutlich auf Distanz. Aber nirgendwo steht, dass die stärkste Fraktion den Regierungschef stellt - auch wenn es fast immer so ist.

2019 in Bremen etwa lag die CDU vorne. Aber die Mehrheit bekam die SPD mit Grünen und Linken zusammen. In Hessen muss die Union eine solche Wendung in Form einer Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP fürchten.

3. Wenn 51 Prozent nicht nötig sind

Ob Schwarz-Grün, CDU und SPD, Ampel oder Deutschlandkoalition aus CDU, SPD und FDP: Was rechnerisch am Ende drin ist, hängt an wenigen Prozentpunkten - und nicht zuletzt am Schicksal der kleineren Parteien. Denn ein Bündnis braucht nicht die Mehrheit der bei der Wahl abgegebenen gültigen Stimmen, sondern die Mehrheit im Landtag.

12 Prozent der Wählerstimmen entfallen im aktuellen hr-Hessentrend auf Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde blieben und nicht ins Parlament kämen. Linke und Freie Wähler (jeweils 3 Prozent) dürfen aber noch hoffen. Am Ende reichen für die Regierungsmehrheit vielleicht schon um die 45 Prozent.

4. Was rechnerisch geht - und was nicht

Stand jetzt: die Fortsetzung von Schwarz-Grün und ein früher einmal große Koalition genanntes Bündnis von CDU und SPD, mit jeweils 49 Prozent. Eine Ampelregierung wie im Bund käme mit 40 Prozent derzeit nicht zustande. Aber bei drei beteiligten Parteien müsste jede nur ein wenig zulegen - und alles sähe gleich ganz anders aus.

Ein rot-grünes Bündnis dagegen, das in den 1980ern und 1990ern insgesamt immerhin zwölf Jahre lang das Bundesland regiert hat, ist nicht in Reichweite. Für Rot-Grün-Rot gilt das noch mehr.

5. Hessische Spezialität

Starke Lagerbildung und verhärtete Fronten erschwerten lange Zeit in Hessen die Koalitionsbildung. Irgendwann war von der Ausschließeritis als typischer hessischer Krankheit die Rede. Devise: "Mit denen? Nie im Leben!"

Das führte 2008 zum katastrophal gescheiterten Versuch der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti, eine von der Linken geduldete Minderheitsregierung mit den Grünen zu bilden.

Es brauchte auch diese Erfahrung, damit wenige Jahre später Schwarz-Grün möglich wurde. Seit damals heißt es formelhaft vor Hessen-Wahlen gerne: Wir schließen das nicht aus.

6. Hinter der Brandmauer

Manches wird dann doch zum Tabu erklärt. Wer 31 und 17 Prozent zusammenzählt, kommt zwar auch auf eine schwarz-blaue Regierungsmehrheit. Aber eine Zusammenarbeit mit der AfD, die der hessische Verfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall geführt hatte, bis ein Verwaltungsgericht ihm das vorerst untersagte, hat die Hessen-CDU stets kategorisch ausgeschlossen.

Gerade musste CDU-Landeschef Rhein nach dem Wirbel um die gemeinsame Abstimmung von CDU und AfD in Thüringen noch einmal beteuern, dass in Hessen die Brandmauer stabiler steht. Bislang hält die Union in Wiesbaden demonstrativ Abstand. Anders als in Thüringen drohen in Hessen nach der Wahl auch keine unklaren Mehrheitsverhältnisse.

7. Was für und was gegen Schwarz-Grün spricht

Das Zweckbündnis hat zehn Jahre ohne Zerwürfnisse funktioniert - trotz inhaltlicher Differenzen und auch in schweren Zeiten. Man weiß, was man aneinander hat. Allerdings störte viele in der CDU, wie der kleinere Partner allmählich stärker wurde, was freilich durch das Landtagswahlergebnis 2018 gedeckt war. Aber auch die Grünen mussten manche Kröte schlucken.

Zum Schluss wuchs der Verdruss, und es gab sogar öfter lauten Ärger - wegen der Bundespolitik und im Hanau-Untersuchungsausschuss. Am Ende entscheidet ohnehin, ob einer der beiden bisherigen Regierungspartner Alternativen hätte, die ihm auch nach Verhandlungen noch inhaltlich und strategisch gelegener erscheinen.

8. Was für und was gegen eine CDU/SPD-Koalition spricht

Ministerpräsident Rhein wird eine größere Nähe zu SPD und FDP als zu den Grünen nachgesagt. So heftig die Sozialdemokraten etwa beim Kampf gegen rechts oder in der Schulpolitik die Regierung attackierten: Auf mehreren Feldern sind die Unterschiede gering.

Eine Autogrammkarte von SPD-Spitzenkandidatin Nancy Faeser in Rheins Büro zeigt: Persönlich stimmt das Verhältnis, auch wenn die Bundesinnenministerin für eine Rolle als Vize-Kabinettschefin nicht nach Hessen wechseln würde. 25 Jahre Opposition haben die Sehnsucht in ihrer Landespartei verstärkt, wieder mehr Mitsprache, Aufmerksamkeit und Ämter zu erhalten - und sei es in der Juniorrolle.

9. Was für und was gegen die Ampel spricht

Für Faeser und die SPD ist eine Ampelkoalition die derzeit einzig greifbare Option, den Traumjob an der Spitze der künftigen Regierung besetzen zu können. Für die Grünen auch, deren Spitzenmann Tarek Al-Wazir auch nicht länger Vize-Ministerpräsident bleiben will.

Nur einer kann es werden, wenn überhaupt. Was für den Unterlegenen die Ampel weniger attraktiv und das Regieren mit der CDU attraktiver machen könnte. Posten würden nur durch zwei geteilt statt durch drei. Und die inhaltliche Arbeit könnte berechenbarer sein.

Denn da sind vor allem die schlechten Erfahrungen mit Berlin: Der Dauerzoff im Dreier-Bündnis lässt auch die Landesverbände der beteiligten Parteien leiden. Vor allem die Grünen, die diesen Zirkus in Hessen nicht haben. Und FDP-Spitzenkandidat Stefan Naas nennt sich auch noch "Anti-Al-Wazir", will nur notfalls mit den Grünen zusammenarbeiten.

10. Wie Rhein die FDP ärgert

Am liebsten wären Naas und der FDP die CDU oder wenigstens eine Deutschland-Koalition mit Union und SPD. Verbindendes gibt es reichlich, unüberbrückbare Differenzen wohl nicht.

Doch nicht nur, dass die Liberalen um den Einzug in den Landtag bangen müssen. Wenn eine Ampel gar nicht möglich ist, winkt Rhein die starke Verhandlungsposition, zwischen Grünen und SPD wählen zu können. Die FDP würde gar nicht gebraucht.

Diesen Bedeutungsverlust ließ der Chef der Hessen-CDU den treuen Partner früherer Jahre gerade mit einer direkten Attacke schmerzlich spüren. Er warnte davor, die FDP zu wählen, weil auch das eine Stimme für die Ampel sei.

11. Wählen ist nicht alles

Dass die CDU sich im Wahlkampf mit dem Schlachtruf "Kurs statt Chaos" eine Koalition als Hauptgegner ausgesucht hat, ist kein Zufall. Die Ampel ist derzeit am unpopulärsten, vier von fünf Menschen im hr-Hessentrend stellen ihr ein schlechtes Zeugnis aus.

Mehr als rund 30 Prozent Zustimmung ist allerdings derzeit für keine einzige Kombination drin. So gesehen also ganz praktisch, dass am 8. Oktober, anders als suggeriert, erst einmal über Parteien abgestimmt wird. Koalitionen sind dann Verhandlungssache der gewählten Volksvertreter.

Weitere Informationen

Landtagswahl 2023 auf hessenschau.de

Ergebnisse der Hessen-Wahl:

Aktuelles zur Landtagwahl:

Alle Informationen im Wahl-Dossier:

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Weitere Informationen

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 14.09.2023, 19.30 Uhr

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Quelle: hessenschau.de